Rechtsstaatlichkeit: Wer Karlsruhe und Warschau gleichsetzt, irrt grundsätzlich

In einem Beitrag auf Verfassungsblog.de vergleicht Univ. Prof Alexander Thiele (Law School Berlin) das Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs vom 7. Oktober 2021 mit dem Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 zum Nachkaufprogramm der Europäischen Zentralbank.

Sein Fazit: Unabhängig davon, was man über das BVerfG-Urteil denkt, hat das polnische Urteil eine völlig andere Qualität. Es erschüttert die Grundlagen der europäischen Integration, beeinträchtigt das Funktionieren des supranationalen europäischen Justizsystems massiv und betrifft in diesem Zusammenhang in erster Linie die Zukunft.

Hier der Beitrag auszugsweise:

1. In seinen Leitsätzen stellt das polnische Gericht die Verfassungswidrigkeit zentraler primärrechtlicher Normen (Art. 1 und 19 des Unionsvertrages) fest und stellt den etablierten Vorrang des Europarechts im Hinblick auf die polnische Verfassung prinzipiell in Frage. Das Bundesverfassungsgericht akzeptiert hingegen in ständiger Rechtsprechung den Vorrang auch vor der Verfassung und hat in seinem Urteil lediglich einen einzelnen sekundären Rechtsakt einer EU-Institution für ausnahmsweise ultra-vires eingestuft.

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Rechtsstaatlichkeit: Polnische Regierung auf der Suche nach „Schwachstellen“ in anderen Justizsystemen

Im Konflikt um die vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) gefällte Entscheidung, dass Teile einer Justizreform in Polen gegen das europäische Recht verstoßen, geht die polnische Regierung in die Offensive: Es wird nach vermeintlichen Schwachstellen in den Justizsystemen anderer EU-Mitgliedsstaaten gesucht, um so offenzulegen, dass der EuGH mit zweierlei Maß messe.   

Richterauswahl beim deutschen Bundesgerichtshof im Visier

Wenn der EuGH wegen der Beteiligung von Politikern an der Auswahlprozedur für Richter in Polen die Unabhängigkeit dieser Richter infrage stelle, dann stelle Polen nun die Frage, welchen Einfluss so eine Beteiligung auf die Unabhängigkeit künftiger Richter am deutschen Bundesgerichtshof habe, sagte der polnische Justizminister laut „Spiegel“. Denn in Deutschland würden Richter für den Bundesgerichtshof vom Richterwahlausschuss gewählt, der ausschließlich aus Politikern besteht.

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Europäische Verwaltungsrichter-Vereinigung warnt vor Abbau des Rechtsstaats in Europa

Corona-bedingt verspätet fand letzte Woche die 20. Generalversammlung der Europäischen Verwaltungsrichter-Vereinigung (AEAJ) in Lyon statt. Da nach wie vor in vielen Staaten Reisebeschränkungen gelten, wurde die Veranstaltung am „Cour Administrative D’Appel de Lyon“ in Hybrid-Form durchgeführt. Erstmals mit dabei waren Vertreter der „American Bar Association“.

Aus Anlass der Entscheidung des Polnischen Verfassungsgerichtshofes, die EU-Verträge als nicht mehr verbindlich anzusehen, verabschiedete die Generalversammlung einstimmig eine Resolution gegen diesen Angriff auf die Grundlagen der Europäischen Union. In der Diskussion wurde dazu festgestellt, es sei in ganz Europa die Tendenz zu beobachten, nicht eine Anhebung der rechtsstaatlichen Standards auf Grundlage der „Best Practice“ anzustreben, sondern unter Hinweis auf andere Mitgliedsstaaten eine Aufweichung dieser Standards zu betreiben.

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Justizreform in Polen: Nahkampf um den Rechtsstaat

Seit Jahren diffamiert die polnische Regierung Richterinnen und Richter, wirft ihnen Korruption vor. Jetzt fahren sie durchs Land und werben um Vertrauen. Zu spät? (Eine Recherche ermöglicht durch das Journalistenstipendium der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit).

Zum Kampf um die polnische Demokratie sind nur ein paar Dutzend Menschen gekommen. Popmusik dröhnt aus Lautsprecherboxen, mischt sich unter das Geschrei spielender Kinder. Auf einer allzu großzügig abgesperrten Rasenfläche in Biłgoraj, einer Kleinstadt unweit der ukrainischen Grenze, verlieren sich die Neugierigen. Mit verschränkten Armen beobachten sie den Mann in T-Shirt und ausgewaschenen Jeans, der durch das Publikum wandert.

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Polen: EuGH-Urteil wird trotz Ultimatums nicht umgesetzt

Die polnische Regierung ist weiterhin nicht bereit, die vom Europäischen Gerichtshof als rechtswidrig erklärte Disziplinarkammer sofort auszusetzen.

In einem Schreiben an die EU-Kommission stellt die polnische Regierung in Aussicht, die Disziplinarkammer im Rahmen einer zukünftigen Justizreform abschaffen zu wollen. Die Kommission hatte Warschau bis Montag dieser Zeit gegeben, um darzulegen, wie die Regierung ein Urteil und eine einstweilige Anordnung des EuGH zum polnischen Disziplinarrecht vollständig umsetzen werde. Ein Sprecher bestätigte am Dienstag den Eingang des Schreibens. „Wir analysieren die Antwort, bevor wir über weitere Schritte entscheiden“, sagte er. Alle Optionen blieben auf dem Tisch. Dazu gehört ein Antrag auf finanzielle Sanktionen beim EuGH.

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Rechtstaatlichkeit: EU-Kommission bestätigt Reformbedarf der österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit

Die EU-Kommission greift im Rechtsstaatsbericht zu Österreich eine Reihe von Kritikpunkten auf, auf die der Dachverband der Verwaltungsrichter (DVVR) hingewiesen hatte.

Nach dem in der letzten Woche veröffentlichen Rechtsstaatsbericht der EU-Kommission besteht in Österreich ein gleichbleibend hohes Maß an Vertrauen in die Unabhängigkeit der Justiz. Ungeachtet dessen bleiben auch die aufgezeigten Defizite nahezu die selben: Dazu zählt auch die überfällige Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Keine verbindlichen Besetzungsvorschläge für Richterposten, kein Beschwerderecht übergangener Bewerber 

Der Dachverband der Verwaltungsrichter (DVVR) hatte in seinem Forderungsprogramm „AGENDA2022“ bereits im Jahr 2017 festgehalten, dass das im Bundesverfassungsgesetz enthaltene Selbstergänzungsrecht der Verwaltungsgerichte als Meilenstein zur Sicherstellung der Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichte zu betrachten ist. Aus dieser Überlegung heraus und um dem Vorwurf politisch motivierter Richterernennungen wirksam entgegen treten zu können, wurde daher – nach dem Vorbild des Verwaltungsgerichtshofs – die Verbindlichkeit der Besetzungsvorschläge der Personalsenate (Personalausschüsse) der Verwaltungsgerichte gefordert.

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EuGH/Judikatur: Teile der Justizreform in Polen widersprechen Unionsrecht

Der Europäische Gerichtshof hält einen zentralen Bestandteil von Polens Justizreform für unrechtmäßig. Polen hat mit seiner neuen Disziplinarordnung für Richter „gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen“.

Darüber hinaus bestehen nach dem Urteil generelle Zweifel an Polens Justiz (Urteil vom 15.07.2021, Az. C-791/19).

Richter können für unbotmäßige Entscheidungen gemaßregelt werden

Im Zuge ihres umfassenden Abbaus des Rechtsstaates hatte Polens Regierung 2018 einen politisch abhängigen Landesjustizrat (KRS) zur Richterauswahl und zwei ebenfalls abhängige Sonderkammern am Obersten Gericht des Landes eingesetzt: Eine Disziplinarkammer, die jedes Urteil überprüfen und Disziplinarverfahren gegen Richterinnen und Richter einleiten kann – bis hin zur Entlassung. Und eine Außerordentliche Aufsichtskammer, die befugt ist, jedes rechtskräftige Urteil der letzten Jahre aufzuheben.  

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Rechtsstaatlichkeit (2): Ehemaliger Präsident des deutschen BVerfG zu Rechtsstaatsdefiziten und dem Verhältnis EuGH und nationale Höchstgerichte

In einem Interview nahm der ehemalige Präsident des deutschen Bundesverfassungsgericht Andreas Voßkuhle Stellung zur Debatte um die EZB-Entscheidung des BVerfG, den Streit mit dem EuGH, das drohende Vertragsverletzungsverfahren und die Rechtsstaatlichkeit in der EU.

Europäische Mechanismen bis jetzt wirkungslos

Ernste rechtsstaatliche Defizite sieht Voßkuhle in Polen und Ungarn, in beiden EU-Mitgliedstaaten haben die rechtspopulistischen Regierungen massiv auf die Justiz zugegriffen. Ein derartig tiefgreifender Umbau des nationalen Rechtssystems kann auch aus Sicht der EU-Rechtsgemeinschaft nicht folgenlos bleiben. Schließlich hatte der Europäische Rat 1993 mit Blick auf die EU-Osterweiterung die sogenannten Kopenhagener Kriterien beschlossen, die alle Beitrittsländer erfüllen müssen. Dazu gehört eine rechtsstaatliche Grundordnung.  (Siehe dazu: Das „Kopenhagen-Dilemma“ oder das Glaubwürdigkeitsproblem der EU)

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Rechtsstaatlichkeit (1): EU-Parlament setzt Kommission letzte Frist

Das Europaparlament hat der EU-Kommission eine letzte Frist gesetzt, um die neue Möglichkeit zur Kürzung europäischer Gelder bei Rechtsstaatsverfehlungen zur Anwendung zu bringen.

Der Rechtsstaatsmechanismus ist seit Anfang dieses Jahres in Kraft. Ungarn und Polen, die seit Jahren wegen rechtsstaatlicher Verfehlungen in der EU am Pranger stehen, hatten sich vergangenes Jahr vehement gegen das neue Instrument gewehrt. Sie blockierten dabei über Wochen ein billionenschweres Finanzpaket aus dem EU-Haushalt und dem CoV-Hilfsfonds.

Bei Untätigkeit ist EuGH am Zug

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Digitalisierung: EU-Kommission gibt Rechtsrahmen für die Anwendung künstlicher Intelligenz vor

Der von der EU-Kommission vergangene Woche vorgelegte „Rechtsrahmen“ für die Anwendung von Künstlicher Intelligenz (KI) enthält eine Liste an Technologien, die in Zukunft verboten werden sollen.

Genannt werden Social-Credit-Systeme wie in China oder biometrische Überwachung im öffentlichen Raum, nicht aber „Killerdrohnen“.

Risikobasierte Klassifizierung

Ziel der neuen Vorschriften ist eine zukunftssichere Definition künstlicher Intelligenz, welche in allen Mitgliedstaaten direkt und in gleicher Weise Anwendung finden soll. Diese Definition folgt einem risikobasierten Ansatz, indem die Anwendungsmöglichkeiten nach Risikogruppen klassifiziert (unannehmbares, hohes, geringes oder minimales Risiko) werden.

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