Rechtsstaatlichkeit (2): Ehemaliger Präsident des deutschen BVerfG zu Rechtsstaatsdefiziten und dem Verhältnis EuGH und nationale Höchstgerichte

In einem Interview nahm der ehemalige Präsident des deutschen Bundesverfassungsgericht Andreas Voßkuhle Stellung zur Debatte um die EZB-Entscheidung des BVerfG, den Streit mit dem EuGH, das drohende Vertragsverletzungsverfahren und die Rechtsstaatlichkeit in der EU.

Europäische Mechanismen bis jetzt wirkungslos

Ernste rechtsstaatliche Defizite sieht Voßkuhle in Polen und Ungarn, in beiden EU-Mitgliedstaaten haben die rechtspopulistischen Regierungen massiv auf die Justiz zugegriffen. Ein derartig tiefgreifender Umbau des nationalen Rechtssystems kann auch aus Sicht der EU-Rechtsgemeinschaft nicht folgenlos bleiben. Schließlich hatte der Europäische Rat 1993 mit Blick auf die EU-Osterweiterung die sogenannten Kopenhagener Kriterien beschlossen, die alle Beitrittsländer erfüllen müssen. Dazu gehört eine rechtsstaatliche Grundordnung.  (Siehe dazu: Das „Kopenhagen-Dilemma“ oder das Glaubwürdigkeitsproblem der EU)

Die EU hat verschiedene Instrumente an der Hand, um die europäische Rechtsgemeinschaft zu schützen. Dazu gehört der Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips, ein Verfahren, in dem die Kommission im Dialog mit einem Mitgliedstaat Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit anspricht. Hat das keinen Erfolg, können es in einem Verfahren nach Art. 7 des Vertrags der Europäischen Union (EUV) Sanktionen verhängt werden, bis hin zur Aussetzung der Stimmrechte. Auch weitere Instrumente wie der Europäische Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, das europäische Semester und das EU-Justizbarometer, sollen die Rechtsstaatlichkeit stärken, indem mit Berichten und Statistiken auf die Lage der Justiz in den Mitgliedstaaten aufmerksam gemacht wird.

Nichts davon scheint bisher wirklich zu wirken. Die Hoffnung, man könne mit frühzeitiger Kommunikation Veränderungen im Verhalten abtrünniger Mitgliedstaaten erreichen, habe sich nicht erfüllt, so Voßkuhle. Für die „nukleare Option“, den Entzug von Stimmrechten, müsste der Europäische Rat zunächst einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte – Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte – vorliegt. Eine einstimmige Entscheidung sei aber regelmäßig zum Scheitern verurteilt, sobald mehr als ein Mitgliedstaat Sanktionen befürchten muss, so Voßkuhle.

Der EuGH – ein Gericht mit Agenda?

Die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten wirken also oft ohnmächtig. Dem EuGH kommt angesichts dessen eine zentrale Rolle zu – allerdings keine unproblematische. Voßkuhle bezeichnete das Luxemburger Gericht mit den Worten des ehemaligen BVerfG-Richters Dieter Grimm als „Gericht mit einer Agenda“. Es sei eben kein Wahrer der Interessen der Mitgliedstaaten, auch kein neutrales Schiedsgericht, sondern habe vielmehr von vorneherein die europäische Integration vorangetrieben.

„Ohne den Beitrag des EuGH wäre die EU heute rechtlich schlechter verfasst“, sagte Voßkuhle. Doch die Versuche des EuGH, die Rechtsstaatlichkeit in der EU zu wahren, sieht er sehr skeptisch. Als Kipppunkt macht Voßkuhle dabei die Luxemburger Entscheidung zur Unabhängigkeit der portugiesischen Justiz vom Februar 2018 aus. Damals hatte der EuGH auf Grund einer Vorlage des Obersten Verwaltungsgerichtshof in Portugal zu klären, ob es gegen die richterliche Unabhängigkeit verstößt, wenn die Bezüge von Richtern vorübergehend gekürzt werden, um ein Haushaltsdefizit abzubauen.

Im Ergebnis billigten die Luxemburger Richterinnen und Richter die Entscheidung des portugiesischen Gesetzgebers. Aber sie nutzten die Gelegenheit um deutlich zu machen, was genau sie sich unter dem wirksamen Rechtsschutz vorstellen, den die Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 EUV gewährleisten müssen. Mit einem „Husarenstreich“ habe der EuGH sich damit die Kompetenz geschaffen, die gesamte interne Organisation der Justiz eines Mitgliedstaates am Maßstab der unionsrechtlichen Vorstellung richterlicher Unabhängigkeit zu messen, obwohl es sich um einen nicht harmonisierten Bereich handele, so Voßkuhle.

Und seitdem verfolge der EuGH diese selbst angelegte Linie weiter: So sei die Entscheidung, dass die deutsche Staatsanwaltschaft keinen europäischen Haftbefehl ausstellen darf, weil sie nicht unabhängig ist, „vielleicht nicht zwingend, aber noch nachvollziehbar“, so Voßkuhle. Bei der Vorlage des Verwaltungsgerichts Wiesbaden, das sich selbst für nicht ausreichend unabhängig hielt, habe der EuGH aber „größte Schwierigkeiten“ gehabt, letztlich zu dem Ergebnis zu kommen, dass es sich sehr wohl um ein unabhängiges Gericht handele. Voßkuhle betonte auch, dass es eben nicht nur auf die formellen Strukturen, sondern auch auf die Rechtskultur ankomme, die in einem Mitgliedstaat gepflegt werde.

Bekommt der EuGH also die von ihm selbst aufgeworfene umfangreiche Überprüfung der Justizstrukturen nicht mehr in den Griff? Theoretisch mag das ein Problem sein, in der Praxis hat der EuGH aber gerade nicht das deutsche Justizsystem über den Haufen geworfen, als er über das VG Wiesbaden zu entscheiden hatte. Und er zeigt sich gegenüber den polnischen Gerichten, die ihn immer wieder mit Vorlageverfahren befassen, eher zurückhaltend und spielt den Ball an die dortige Justiz zurück, wie etwa im Streit um die Disziplinarkammer.

Sackgasse EZB-Streit – und ein Kompetenzgerichtshof?

Und was wird aus den Kontrahenten EuGH und BVerfG? Nach dem Clash der EZB-Entscheidung wurde auch die – nicht unumstrittene – Idee eines Kompetenzgerichtshofs wieder in den Raum geworfen und der kann Voßkuhle viel abgewinnen. Er schlägt ein Ad-hoc-Gericht vor, das etwa zu zwei Dritteln mit Präsidentinnen und Präsidenten der nationalen Verfassungsgerichte und zu einem Drittel mit EU-Richtern besetzt würde. In bestimmten Fällen könnte dieses Gericht dann angerufen werden, um Kompetenzfragen zu klären.  „Das wäre eine gute Sache“, so Voßkuhle. „Es würde dazu führen, dass die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten sich um diese Kompetenzfragen nicht mehr kümmern müssen – sie dem EuGH zu überlassen, würde aber auch nicht funktionieren.“

Auch eine Möglichkeit also: EuGH und BVerfG könnten sich beide etwas zurückziehen und die Bühne wieder stärker den politischen Akteuren überlassen. Ob das der richtige Weg ist, um die Rechtsstaatlichkeit in der EU wieder auf stabilere Füße zu stellen, bleibt erstmal ungewiss.

Hier den ganzen Beitrag auf „Legal Tribune Online“ lesen …

Siehe dazu auch: EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts gefährdet europäisches Justizsystem …

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