Maiforum 2023 (Teil 1) – grundrechtliche Vorgaben zur (organisatorischen) Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit

Zur Eröffnung des Maiforums mahnte der Präsident des Dachverbands der Verwaltungsrichter:innen Markus Thoma die Umsetzung der europäischen Standards zur Bestellung von Richter:innen und Gerichtspräsident:innen durch richterliche Organe als Ausfluss der richterlichen Selbstverwaltung und Unabhängigkeit ein. Die Bestellung der offenen Posten, so aktuell der Posten des/der Präsident:in des BVwG, sollen auch zeitnah und unparteiisch erfolgen.

Die Justizministerin Alma Zadic begrüßte die Veranstaltungsteilnehmer:innen und betonte, dass die Gerichtsbarkeit sich an die ständig ändernden Herausforderungen anpassen müsse. Für die Unabhängigkeit der Justiz ist die Ausstattung mit ausreichenden Ressourcen Voraussetzung. Als besonderes Anliegen erwähnte sie die vom Rechnungshof geforderte Fortbildungsverpflichtung der Richter:innen, die sie verbindlich im Bereich der Justiz einführen wolle. Es ist ihr zu verdanken, dass die Veranstaltung im Bundesministerium für Justiz ausgerichtet werden konnte und freundlich unterstützt wurde.

Das Anliegen dieses Maiforums war es, sich mit der am 1. Jänner 2014 in Kraft getretenen Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit vor allem anhand der grundrechtlichen Anforderungen, wie diese insbesondere in Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und in Art. 47 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) festgelegt sind, auseinanderzusetzen und den Stand der Umsetzung kritisch zu beleuchten.

Raffaele Sabato, Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), stellte in seinem Vortrag aus seiner persönlichen Sicht anhand der Rechtsprechung des EGMR und des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) die Voraussetzungen für die organisatorische Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit dar. Aus Art. 6 EMRK ergibt sich, dass die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte selbst wie auch der einzelnen Richter:innen gewährleistet sein muss. Die Organisation, Zusammensetzung und Bestellung der Gerichte muss gesetzlich geregelt sein. Dies führte Sabato ua. anhand der Entscheidungen des EGMR zur Justizreform in Polen aus.

Nach Art. 6 Abs. 1 EMRK sind alle Streitigkeiten, die „zivile Rechte und Pflichten“ oder „strafrechtliche Tatbestände“ betreffen, von einem „auf Gesetz beruhenden Gericht“ zu entscheiden. Dabei handelt es sich um eine allgemeine Anforderung, die sowohl Fragen der Hierarchie als auch der Qualität des Rechts ansprechen. Der EGMR hat jedoch stets erklärt, dass er den Mitgliedstaaten keine verfassungsrechtlichen Regelungen vorschreibe.

In der Rechtssache Leo ZAND vs Austria von 1978 hat die Kommission eine Klage für zulässig befunden zur Klärung der Frage, ob das erstinstanzliche Arbeitsgericht ein Gericht ist, das die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfülle, da es durch einen Regierungserlass und nicht durch ein Gesetz errichtet worden sei. Der Kläger beschwerte sich insbesondere darüber, dass ein Arbeitsgericht durch eine Verwaltungsentscheidung aufgrund eines vorübergehenden Bedarfs eingerichtet und wieder aufgelöst werden könne. Die Kommission erinnerte daran, dass der Begriff „auf gesetzlicher Grundlage“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK gewährleisten soll, „dass die Organisation der Justiz in einer demokratischen Gesellschaft nicht vom Ermessen der Exekutive abhängt, sondern durch ein vom Parlament ausgehendes Gesetz geregelt wird“. Die Unabhängigkeit muss gegenüber der Exekutive sowie gegenüber den Parteien gleichermaßen sichergestellt sein.

In der Entscheidung des EuGH Europäische Kommission gegen Republik Polen, C-619/18, vom 24.06.2019, hielt der Gerichtshof fest, dass eine Maßnahme, mit der das Ruhestandsalter der Richter:innen des Obersten Gerichts, Polen, von 70 auf 65 Jahre gesenkt und dem Präsidenten der Republik ein freier Ermessensspielraum eingeräumt wurde, den aktiven Dienst der Richter:innen dieses Gerichts über das neu festgelegt Ruhestandsalter hinaus zu verlängern, die Unabhängigkeit der Justiz untergräbt und gegen Art. 19 Abs. 1 EUV verstößt. Die Ermächtigung des Präsidenten der Republik war an kein Kriterium gebunden und seine Entscheidung unterlag keiner gerichtlichen Überprüfung.

Aufgrund von Vorabentscheidungsersuchen polnischer Gerichte sind zwei Urteile des EuGH ergangen, welche die Änderungen polnischer Regelungen betreffend Unabhängigkeit der Richter:innen am Obersten Gericht, Polen, betreffen. Der EuGH äußert sich in diesen Urteilen auch zu den Folgen eines Verstoßes gegen die unionsrechtlichen Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und an die richterliche Unabhängigkeit:

In der Rechtssache A.K. u. a., C-585/18 u.a., vom 19.11.2019 befasste sich die Große Kammer des EuGH mit der Frage der Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des polnischen Obersten Gerichts und mit der Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter:innen am Obersten Gericht, Polen. Bei der Darlegung der Anforderungen, die nach EU-Recht an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Gerichts zu stellen sind, stützte sich der Gerichtshof auf Art. 47 Abs. 2 GRC (Recht auf ein faires Verfahren) und wies darauf hin, dass nach Art. 52 Abs. 3 GRC „[d]er Gerichtshof […] daher darauf achten [muss], dass seine Auslegung von Art. 47 Abs. 2 der Charta ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt […]. Diese Auslegung von Art. 47 der Charta wird durch die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK bestätigt, wonach diese Bestimmung verlangt, dass die Gerichte unabhängig sein müssen, und zwar sowohl von den Parteien als auch von der Exekutive und der Legislative.“

In der weiteren Rechtssache A.B. u.a., C-824/18, vom 02.03.2021 hatte der Gerichtshof über den Ausschluss von Rechtsbehelfen im Zusammenhang mit der Ernennung von Richtern am Obersten Gericht, Polen, zu entscheiden. Im Tenor stellt er jeweils fest, dass das vorlegende Gericht dazu verpflichtet sei, die betreffenden Änderungen der polnischen Rechtsordnung im Falle eines Verstoßes gegen die Vorgaben u.a. des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV unangewendet zu lassen, was dazu führt, dass der frühere Rechtszustand zugrunde zu legen ist.

In der Rechtssache Guðmundur Andri Ástráðsson vom 1.12.2020 hatte der EGMR die Ernennung von Richter:innen des neu eingerichteten isländischen Berufungsgerichts zu beurteilen. Die Unregelmäßigkeiten in diesem Verfahren war letztlich als Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren zu sehen.

Zum Sachverhalt: Nach der Durchführung des Auswahlverfahrens erstellte ein Begutachtungsausschuss eine Reihung von 15 Kandidaten. Das Justizministerium entfernte vier vom Begutachtungsausschuss als qualifizierteste ausgewählte Kandidaten und ersetzte sie im Wesentlichen ohne Begründung durch andere Kandidaten, die in der Rangliste weiter hinten standen. Herr Guðmundur Andri Ástráðsson wurde vom isländischen Bezirksgericht wegen Verstoßes gegen das Verkehrsgesetz verurteilt. Sein Fall kam vor das neu eingerichtete isländische Berufungsgericht. In diesem Urteil stellte die Große Kammer eine Verletzung des Rechts auf ein auf Gesetz beruhendes Gericht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgrund der fehlerhafte Ernennung der Richter:innen fest.

Der Gerichtshof formulierte eine dreistufige Prüfung, um festzustellen, ob Unregelmäßigkeiten in einem gerichtlichen Ernennungsverfahren so schwerwiegend sind, dass sie eine Verletzung des Rechts auf ein auf Gesetz beruhendes Gericht darstellen: Es muss ein offensichtlicher Verstoß gegen das innerstaatliche Recht vorliegen, in dem Sinne, dass dieser Verstoß objektiv und tatsächlich als solcher erkennbar sein muss. Der Gerichtshof fügt jedoch hinzu, dass auch in Ermangelung eines solchen Verstoßes eine Verletzung von Art. 6 EMRK vorliegen kann. In einem solchen Fall müssen die Punkte zwei und drei geprüft werden. Verstöße, die die grundlegendsten Regeln des Ernennungsverfahrens völlig außer Acht lassen oder den Zweck und die Wirkung des Rechts auf ein ordentliches Gericht in anderer Weise untergraben, verletzen Art. 6 EMRK. Die von den nationalen Gerichten durchgeführte Überprüfung ist ebenfalls von Bedeutung und ist von Relevanz, ob die innerstaatlichen Gerichte einen Verstoß gegen die innerstaatlichen Vorschriften während des Ernennungsverfahrens festgestellt und die rechtlichen Auswirkungen dieses Verstoßes im Lichte der einschlägigen Rechtsprechung der Konvention beurteilt haben.

Der EGMR kam zu dem Schluss, dass eine Verletzung des Rechts auf ein auf Gesetz beruhendes Gericht vorliegt. Erstens sei der Verstoß gegen den nationalen Rechtsrahmen für die Ernennung der Richter vom Obersten Gerichtshof eindeutig festgestellt worden. Zweitens stellte der Gerichtshof fest, dass dieser Verstoß von erheblicher Schwere war. Drittens: Die Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof hat diese Verstöße nicht behoben. Es stellte zwar einen Verstoß gegen die einschlägigen Verfahrensvorschriften fest, zog aber nicht die notwendigen Konsequenzen aus dieser Feststellung.

Entscheidungen von EGMR zu Polen:

  1. EGMR XERO FLRO w POLSCE sp. z o. o. v. POLAND vom 07.05.2021 betreffend Unregelmäßigkeiten bei der personellen Zusammensetzung des polnischen Verfassungsgerichts

Der EGMR stellte eine Verletzung des Rechts auf ein auf Gesetz beruhendes Gericht fest, da die Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens über eine von einem polnischen Unternehmen eingereichte Verfassungsbeschwerde vom Verfassungstribunal unter Beteiligung einer Person getroffen wurde, die unrechtmäßig in das Richteramt gewählt worden war.

Darüber hinaus stellte der EGMR fest, dass die Rechtsverstöße bei der Wahl der Personen, die am Erlass der Entscheidung im Fall des Beschwerdeführers beteiligt waren, so schwerwiegend waren, dass der Wesensgehalt des Rechts auf rechtliches Gehör durch ein auf Gesetz beruhendes Gericht verletzt wurde.

  • EGMR GRZĘDA v. POLAND vom 15.03.2022 betreffend richterliche Unterabhängigkeit

Im vorliegenden Fall entschied die Große Kammer, dass die Abberufung von Herrn Grzęda, damals Richter am Obersten Gericht, Polen, aus dem Nationalen Justizrat vor Ablauf seiner Amtszeit ohne die Möglichkeit, diese Entscheidung gerichtlich überprüfen zu lassen, sein Recht auf Zugang zu einem auf Gesetz beruhenden Gericht verletzte.

  • EGMR BRODA and BOJARA v. Poland 29.6.2021 betreffend das Recht von Richter:innen auf Zugang zu Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des Justizministers, mit denen die Amtszeit des klagenden Vizepräsidenten des regionalen Gerichtes Kielce vorzeitig beendet wurde

Der Gerichtshof betonte, wie wichtig es ist, die Unabhängigkeit der Justiz und die Wahrung der Verfahrensgerechtigkeit in Fällen zu gewährleisten, die die Laufbahn von Richter:innen betreffen. Er stellte fest, dass der für die Abberufung von Bewerber:innen geltende nationale Rechtsrahmen die Bedingungen, unter denen Vorgesetzte des Gerichts ihres Amtes enthoben werden können, nicht spezifiziert. Nahezu alle Befugnisse waren in den Händen der Exekutive konzentriert und der Nationale Justizrat war von dem Verfahren ausgeschlossen. Der Gerichtshof stellte ferner fest, dass die Kläger weder angehört noch über die Gründe für die ministerielle Entscheidung informiert worden waren. Schließlich war es nicht möglich, diese Entscheidungen durch eine vom Justizministerium unabhängige Organisation überprüfen zu lassen.

Da die vorzeitige Beendigung der Amtszeit der Kläger als Vizepräsidenten des Gerichts weder von einem ordentlichen Gericht noch von einer anderen gerichtlichen Instanz geprüft werden konnten, hatte der beklagte Staat das Recht der Kläger auf Zugang zu einem Gericht in der Sache verletzt.

  • EGMR RECZKOWICZ v. Poland vom 22.07.2021, Disziplinarstrafe durch ein nicht als auf Gesetz beruhendes Gericht zu wertendes Höchstgericht

Die Disziplinarkammer des polnischen Obersten Gerichts, die die Kassationsbeschwerde des Beschwerdeführers abwies, entsprach nach dieser Entscheidung des Gerichtshofs nicht dem in Art. 6 Abs. 1 EMRK garantierten „Recht auf ein auf Gesetz beruhendes Gericht“. Das Gremium der Disziplinarkammer bestand aus Richter:innen, die auf Antrag des Nationalen Justizrats ernannt wurden, der nach den 2017 verabschiedeten Gesetzesänderungen kein unabhängiges Gericht mehr ist.

  • EGMR ADVANCE PHARMA SP. Z O.O v. POLAND vom 03.02.2022, Unregelmäßigkeiten bei der Ernennung von Richter:innen am Obersten Gericht, Polen

Der EGMR stellte erneut eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK fest, weil die Ernennung von Richter:innen vom polnischen Präsidenten auf Antrag des Nationalen Rates für das Justizwesen (NCJ) erfolgte, der nach den 2017 beschlossenen Gesetzesänderungen kein unabhängiges und unparteiisches Gremium mehr ist. Der Gerichtshof stellte fest, dass das Verfahren zur Ernennung der Richter:innen der Zivilkammer des Obersten Gerichts in unzulässiger Weise von der Legislative und der Exekutive beeinflusst worden sei.

Raffaele Sabato schloss mit seinen Erwägungen zu verschiedenen Fallkonstellationen zur Ernennung von Richter:innen sowie dem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK, die zu weiteren Diskussionen und Gedanken angeregt haben. Insbesondere hat er angemerkt, dass Beschwerderechte für einen übergangenen Kandidaten einzuräumen sind im Sinne des Art. 6 EMRK und, dass es viele Formen der Einflussnahme geben kann, wobei immer im Einzelfall zu prüfen ist, ob tatsächlich eine Verletzung des Art. 6 EMRK vorliegt. In diesem Zusammenhang erwähnt Sabato auch, dass eine überzogene Berichtspflicht eine Verletzung darstellen könnte.

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