EuGH / Rechtsstaatlichkeit: Die polnische Justizreform von Dezember 2019 verstößt gegen das Unionsrecht

Der Wert der Rechtsstaatlichkeit gibt der Union als Rechtsgemeinschaft schlechthin ihr Gepräge und schlägt sich in Grundsätzen nieder, die rechtlich bindende Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten enthalten.

Nachdem Polen am 20. Dezember 2019 ein Gesetz erlassen hatte, mit dem die nationalen Vorschriften über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit, der Verwaltungsgerichtsbarkeit und des Obersten Gerichts geändert wurden (im Folgenden: Änderungsgesetz), erhob die Europäische Kommission beim Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage mit dem Antrag, festzustellen, dass mit der durch dieses Gesetz eingeführten Regelung mehrere Bestimmungen des Unionrechts missachtet werden.

Die Kommission ist der Ansicht, dass das Änderungsgesetz die Unabhängigkeit der Richter beeinträchtige, da es der Disziplinarkammer des polnischen Obersten Gerichts, deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht gewährleistet seien, die Befugnis verleihe, in Sachen zu entscheiden, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern auswirkten. Außerdem meint die Kommission, dass das Änderungsgesetz es jedem nationalen Gericht verbiete, die Beachtung der Anforderungen der Union in Bezug auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht zu überprüfen, und eine solche Überprüfung als Disziplinarvergehen einstufe. Der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des polnischen Obersten Gerichts werde eine ausschließliche Zuständigkeit für derartige Überprüfungen zuerkannt. Schließlich trägt die Kommission vor, dass das Änderungsgesetz das Recht auf Privatleben und das Recht auf Schutz personenbezogener Daten verletze, indem es die Richter verpflichte, Angaben zu ihren Aktivitäten in Vereinigungen oder Stiftungen und zu ihrer früheren Mitgliedschaft in einer politischen Partei zu machen, und die Veröffentlichung dieser Angaben vorsehe.

Mit seinem Urteil vom 05.06.2023 gibt der Gerichtshof der Klage der Kommission statt.

Erstens bestätigt der Gerichtshof, dass er uneingeschränkt dafür zuständig ist, zu überprüfen, ob ein Mitgliedstaat Werte und Grundsätze wie Rechtsstaatlichkeit, wirksamen Rechtsschutz und Unabhängigkeit der Justiz beachtet. Bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit im Bereich der Organisation der Justiz müssen die Mitgliedstaaten nämlich den Verpflichtungen nachkommen, die sich aus dem Unionsrecht ergeben. Sie sind ferner verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass sie jeden nach Maßgabe des Wertes der Rechtsstaatlichkeit eintretenden Rückschritt in ihren Rechtsvorschriften über die Organisation der Justiz vermeiden, indem sie davon absehen, Regeln zu erlassen, die die richterliche Unabhängigkeit untergraben würden. Dieser Grundwert, der der Union schlechthin ihr Gepräge gibt, schlägt sich in rechtlich bindenden Verpflichtungen nieder, von denen sich die Mitgliedstaaten nicht unter Berufung auf innerstaatliche Bestimmungen oder Rechtsprechung, einschließlich der verfassungsrechtlichen, lossagen können.

Zweitens bekräftigt der Gerichtshof unter Berufung auf seine frühere Rechtsprechung eine Würdigung, dass die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts die gebotene Anforderung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht erfüllt. Daraus schließt er, dass die bloße Aussicht für die Richter, die das Unionsrecht anzuwenden haben, Gefahr zu laufen, dass eine solche Instanz über Fragen in Bezug auf ihren Status und ihre Amtsausübung entscheiden kann, insbesondere durch ihre Zustimmung dazu, dass sie strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder festgenommen werden, oder durch den Erlass von Entscheidungen über wesentliche Aspekte der für sie geltenden arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Regelung oder der Regelung über ihre Versetzung in den Ruhestand, ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen kann.

Drittens ist der Gerichtshof der Ansicht, dass sich die von der Kommission gerügten Bestimmungen des Änderungsgesetzes angesichts ihres verhältnismäßig weiten und ungenauen Charakters und des besonderen Kontexts, in dem sie erlassen wurden, dahin auslegen lassen, dass die für Richter geltende Disziplinarordnung und die darin vorgesehenen Sanktionen eingesetzt werden, um die nationalen Gerichte daran zu hindern, zu beurteilen, ob ein Gericht oder ein Richter den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen in Bezug auf einen wirksamen Rechtsschutz genügt, und dabei gegebenenfalls den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen. Die so vom polnischen Gesetzgeber erlassenen Maßnahmen sind mit den Garantien hinsichtlich des Zugangs zu einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht unvereinbar. Diese Garantien implizieren nämlich, dass die nationalen Gerichte unter bestimmten Umständen zu überprüfen haben, ob sie selbst, die ihnen angehörenden Richter oder andere Richter oder Gerichte den im Unionsrecht vorgesehenen Anforderungen genügen.

Viertens verstößt es gegen das Unionsrecht, dass mit dem Änderungsgesetz die Zuständigkeit zur Überprüfung der Beachtung der wesentlichen Anforderungen in Bezug auf einen wirksamen Rechtsschutz einer einzigen nationalen Instanz (nämlich der Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts) übertragen werden. Die Beachtung dieser Anforderungen muss nämlich quer durch den gesamten sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts und vor allen nationalen Gerichten, die mit in diesen Bereich fallenden Sachen befasst sind, gewährleistet werden. Die durch das Änderungsgesetz eingeführte monopolistische Kontrolle trägt indessen in Verbindung mit der Einführung der oben genannten Verbote und Disziplinarvergehen dazu bei, das im Unionsrecht verankerte Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsschutz noch weiter zu schwächen.

Schließlich führt der Gerichtshof aus, dass die nationalen Bestimmungen, die die Richter verpflichten, eine schriftliche Erklärung mit Angaben zu ihrer etwaigen Mitgliedschaft in einem Verein, einer Stiftung ohne Gewinnzweck oder einer politischen Partei vorzulegen, und die Veröffentlichung dieser Angaben im Internet vorsehen, die Grundrechte der betreffenden Richter auf Schutz personenbezogener Daten und auf Achtung des Privatlebens verletzen. Die Veröffentlichung der Angaben zu einer früheren Mitgliedschaft in einer politischen Partei im Internet ist im vorliegenden Fall nicht geeignet, das angeführte Ziel zu erreichen, das in einer Verstärkung der Unparteilichkeit der Richter besteht. Was die Angaben zur Mitgliedschaft der Richter in Vereinen oder Stiftungen ohne Gewinnzweck betrifft, so können daraus die religiösen, politischen oder weltanschaulichen Überzeugungen der Richter hervorgehen. Ihre Veröffentlichung im Internet könnte es Personen, die sich aus nicht mit dem angeführten Ziel von allgemeinem Interesse zusammenhängenden Gründen über die persönliche Situation des betreffenden Richters Kenntnis verschaffen wollen, erlauben, frei auf diese Angaben zuzugreifen. Angesichts des besonderen Kontexts der mit dem Änderungsgesetz eingeführten Maßnahmen ist eine solche Veröffentlichung im Internet im Übrigen geeignet, die Richter der Gefahr einer unzulässigen Stigmatisierung auszusetzen, indem ihre Wahrnehmung sowohl durch die einzelnen ihrer Gerichtsbarkeit unterstehenden Personen als auch durch die allgemeine Öffentlichkeit in nicht gerechtfertigter Weise beeinträchtigt wird.

Hier geht’s zur gesamten Pressemitteilung des EuGH Rs C-204/21, ECLI:EU:C:2023:442, vom 05.06.2023

Hier geht’s zum Bericht in der Süddeutschen Zeitung

Hier geht’s zum Bericht in der LTO

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