EuGH: Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz bei Zweifel an der rechtmäßigen Aktenzuteilung durch den Gerichtspräsidenten erforderlich

In der Vorabentscheidung in der Rechtssache C‐16/24 [Sinalov] vom 27.02.2025 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) Vorgaben für die Zulässigkeit von Aktenzuweisung durch den Gerichtspräsidenten aufgestellt und festgehalten, dass ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz zur Frage der Rechtmäßigkeit der Zuteilung für den Richter gegeben sein muss.

Dem Vorabentscheidungsersuchen des bulgarischen Stadtgerichts Sofia lag ein Strafverfahren wegen Beteiligung an einer organisierten kriminellen Vereinigung zugrunde. Kern der Vorlagefrage ist, ob es ein solches nach dem Zufallsprinzip agierendes Aktenzuteilungssystem den Richter erlaubt, darüber selbst zu entscheiden, ob die Aktenzuteilung nicht rechtmäßig erfolgt ist und die Rechtssache einen anderen Richter zuzuweisen. Oder ob der Richter diese Frage dem Gerichtspräsidenten zurücklegen hätte müssen. Gegen die involvierten Richter wurde auch ein Disziplinarverfahren eingeleitet und stellt sich die Frage, ob dieses Verhalten ein Disziplinarvergehen darstellt.

Zunächst hält der Gerichtshof fest, dass – auch wenn das Unionsrecht in seiner derzeitigen Form nicht die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten regelt, insbesondere in Bezug auf die Errichtung, die Zusammensetzung, die Befugnisse und die Arbeitsweise der nationalen Gerichte – die Mitgliedstaaten in Ausübung dieser Zuständigkeit verpflichtet sind, ihren Verpflichtungen aus dem Unionsrecht nachzukommen. Dies gilt insbesondere für die Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, ausreichende Rechtsbehelfe vorzusehen, um einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu gewährleisten. Die Vorschriften über die Zuteilung der Rechtssachen innerhalb eines Gerichts stehen in einem Zusammenhang mit dem Begriff des „tatsächlichen Rechtsschutzes“ im Sinne dieser Bestimmung.

Allgemein führt der EuGH aus, dass eine im Voraus bestimmte Geschäftsverteilung ebenso eine Garantie des Art. 47 Abs. 2 der Charta ist wie die im Vorhinein bestimmte Zusammensetzung des Spruchkörpers. Darüber hinaus setzt die Unabhängigkeit der Gerichte voraus, dass nicht nur unzulässige Einflüsse, die der Gesetzgeber und die Exekutive ausüben können, sondern auch solche, die von dem betreffenden Gericht selbst ausgehen können, ausgeschlossen sind. Im Übrigen ist die Erfüllung der Entscheidungspflicht nicht nur vor jeder unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen zu schützen, sondern auch vor mittelbareren Einflussnahmen, die sich auf die Gerichtsentscheidungen auswirken können. Ein Verstoß gegen die Vorschriften über die Bestimmung der zuständigen Richter, die über eine bestimmte Rechtssache zu entscheiden haben, kann eine solche Wirkung haben.

Konkret wird in der Entscheidung ausgeführt, dass ein zufälliges Aktenzuteilungssystem selbst nicht geeignet zu sein scheint, das Gericht oder den Spruchkörper einem unzulässigen Einfluss auszusetzen und impliziert ein Fehler bei der Anwendung der Zuteilungsregeln nicht notwendigerweise das Vorliegen eines solchen Einflusses. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass der Zweck der Nichtzuweisung einer Rechtssache an einen Richter, der sie in einem früheren Verfahrensstadium verhandelt hat, danach eine solche Zuteilung an einen anderen Richter darin bestehen kann, diesen früheren Richter daran zu hindern, diese Rechtssache weiterzuverhandeln. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie die korrekte Anwendung eines solchen Zuteilungssystems im konkreten Fall zu überprüfen ist.

Das Unionsrecht steht einer Verpflichtung eines Richters nicht entgegen, eine ihm zugewiesene Rechtssache bei Zweifeln der Rechtmäßigkeit der Zuweisung an den Gerichtspräsidenten zurückzuverweisen, um die Rechtsmäßigkeit dieser Zuweisung zu überprüfen. Die Rechtmäßigkeit einer von diesem Gerichtspräsident – als nicht richterliche Entscheidung – vorgenommenen Zuweisung muss jedoch einer gerichtlichen Kontrolle nach den Vorschriften des nationalen Rechts unterliegen.

Im vorliegenden Fall ist das vorlegende Gericht mit einem Strafverfahren befasst und nicht mit einem Disziplinarverfahren gegen die beiden mit der Sache nacheinander befassten Richter. In Anbetracht des Vorlagebeschlusses war daher die Frage, ob der Erlass bestimmter Entscheidungen über die Zuweisung der Rechtssache im Zusammenhang mit diesem Strafverfahren durch diese beiden Richter Disziplinarvergehen darstellen kann, nicht zulässig.

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