
EGMR führte aus, dass die italienischen Behörden seit vielen Jahren gewusst haben, dass die neapolitanische Mafia Hunderte illegale Mülldeponien als lukratives Geschäftsmodell mit schweren gesundheitlichen Folgen für die Bewohner betrieb. Trotz der Kontamination des Grundwassers und der erhöhten Krebsraten hat Italien wenig zum Schutz der Bevölkerung unternommen, aber auch die Situation fehlerhaft bewertet und mangelhaft die Öffentlichkeit informiert. Italien hat durch seine Untätigkeit das Recht auf Leben gemäß Art. 2 der EMRK der betroffenen Bewohner, die sich an den EGMR wandten, verletzt, entschied eine siebenköpfige Kammer des EGMR (Urteil vom 30.01.2025, Cannavacciuolo and Others v. Italy, Beschwerde-Nr. 51567/14 u.a.).
Anwohner der betroffenen Regionen und fünf Umweltorganisationen aus Kampanien hatten in den Jahren 2014 und 2015 Individualbeschwerden an den EGMR erhoben. Die Beschwerden der Organisationen waren laut EGMR mangels direkter Betroffenheit und notwendiger Opfereigenschaft unzulässig. Jedoch waren die anderen Beschwerden von Bewohnern des betreffenden Gebiets zulässig und begründet, da eine „hinreichend ernste, tatsächliche und feststellbare“ Gefahr für das Leben der Antragsteller bestand. Da diese Umstände Italien seit langer Zeit bekannt sind, ist es nicht notwendig, die konkreten Auswirkungen der Verschmutzung auf die Gesundheit bestimmter Antragsteller feststellen zu müssen.
Es gab laut EGMR keine Beweise für eine systematische und koordinierte Reaktion der Behörden auf die Situation in der „Terra dei Fuochi“ (Land der Feuer) und ist auch jetzt noch unklar, welche Gebiete noch dekontaminiert werden müssen.
Die Behörden haben zwar zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Auswirkungen der Umweltverschmutzung auf die Gesundheit der Bevölkerung ab 2013 zu untersuchen, aber dies zu spät. Auch strafrechtlich wird zu wenig erhoben und verfolgt, da Italien nur sieben Beispiele für Verurteilungen wegen Umweltdelikten vorlegen konnte. Die Öffentlichkeit wurde nicht proaktiv über die Gesundheitsrisiken und über Maßnahmen zur Bewältigung der Risiken aufgeklärt, sondern vielmehr einige Informationen sogar über längere Zeit geheim gehalten.
Aufgrund dieser systematischen Mängel hat der EGMR das sogenannte Pilotentscheidungsverfahren angewandt, eine Art Musterverfahren, unter Hinweis darauf, dass es grundsätzlich nicht seine Aufgabe nach Artikel 46 des Übereinkommens ist, die genauen allgemeinen Maßnahmen festzulegen, die erforderlich sind, wies der Gerichtshof auf eine Reihe klar definierter, in erster Linie verfahrensrechtlicher Maßnahmen hin, die erforderlich sind, um auf die im Urteil festgestellten bereichsübergreifenden Mängel zu reagieren:
Italien muss jetzt eine umfassende Strategie ausarbeiten, um die Umweltkatastrophe in der „Terra dei Fuochi“ zu bewältigen und einen unabhängigen Überwachungsmechanismus und eine Plattform zur Information der Öffentlichkeit einrichten.
„a) die Entwicklung einer allgemeinen Strategie, die alle bestehenden oder geplanten Maßnahmen mit einer klaren Abgrenzung der Zuständigkeiten zusammenfasst, um eine unnötige Fragmentierung (oder Doppelung) der Zuständigkeiten zwischen den verschiedenen Ebenen des Staatsapparats sowie den verschiedenen staatlichen Stellen und institutionellen Akteuren, die an der Bewältigung des Problems beteiligt sind, zu vermeiden;
b) die Einrichtung eines unabhängigen Überwachungsmechanismus für die Bewertung der Umsetzung der Maßnahmen, die im Rahmen der oben beschriebenen allgemeinen Strategie eingeführt wurden, und die Einrichtung angemessener Garantien zur Gewährleistung der Unabhängigkeit dieses Mechanismus, z. B. um sicherzustellen, dass seine Zusammensetzung Einzelpersonen – wie Vertreter der Zivilgesellschaft und einschlägige Verbände – umfasst, die keine institutionelle Verbindung zu den staatlichen Behörden haben; und
c) die Einrichtung einer einzigen Informationsplattform, die alle relevanten Informationen über das Problem „Terra dei Fuochi“ in zugänglicher und strukturierter Weise zusammenführt und die Transparenz erhöht, indem die Ergebnisse des unter Buchstabe b genannten unabhängigen Mechanismus auf dieser Plattform veröffentlicht werden.“
Die Umsetzung muss binnen 2 Jahren nach Rechtskraft erfolgen. Die 36 weiteren anhängigen Anträge von rund 4.700 Antragstellern wurden vertagt. Eine Entscheidung über möglichen immateriellen Schadensersatz hat sich der EGMR ebenfalls für diesen Zeitraum vorbehalten.
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