Deutscher Verwaltungsgerichtstag (2): Bericht der VEV – AEAJ zur Rechtsstaatlichkeit in Polen

Sylvain Mérenne, Präsident der Vereinigung der Europäischen Verwaltungsrichter:innen (VEV – AEAJ) und Richter am Oberverwaltungsgericht Marseille, hielt fest, dass die Rechtsstaatlichkeitskrise in Polen nicht nur eine nationale polnische Angelegenheit sei. Die Entwicklung in Polen zeige sehr deutlich, welche Bereiche eines Rechtssystems zunächst unter Druck geraten und wie nach und nach rechtliche Institutionen und die Gerichtsbarkeit durch politische Einflussnahme geschwächt werden können. Dies führe letztlich zu einer Aushöhlung des Prinzips der Gewaltenteilung.

Eva Wendler, Vizepräsidentin der AEAJ und Richterin am Bundesverwaltungsgericht in Österreich, gab einen kurzer Rückblick über die bisherigen Entwicklungen in Polen. Bei den Wahlen zum polnischen Parlament im Oktober 2015 habe die Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PIS) die absolute Mehrheit im polnischen Unterhaus des Parlamentes (Sejm) gewonnen und ihren Einfluss auf den Nationalen Justizrat erheblich ausgeweitet, indem die Mehrheit der Mitglieder des Justizrates seither vom Sejm bestellt wurden. Seit dieser Machtübernahme seien von den ca. 10.000 polnischen Richter:innen bereits ca. 2.500 vom neu zusammengesetzten Justizrat ernannt und etwa 150 Gerichtspräsident;innen durch neu ernannte Gerichtspräsident:innen ersetzt worden. Auch am Verfassungsgericht seien eine Reihe von Richter:innen neu ins Amt berufen worden.

Die Judikatur des polnischen Verfassungsgerichtes, nach der Teile des EU-Rechtes mit der polnischen Verfassung nicht vereinbar seien, sei europaweit scharf kritisierte worden. Das Pensionsalter für Richter:innen am Obersten Gerichtshof sei von 70 auf 65 Jahre herabgesetzt worden, sodass einige Stellen vorzeitig frei geworden seien und durch den Nationalen Justizrat neu besetzt werden konnten. Weiters sei am Obersten Gerichtshof eine Disziplinarkammer mit besonderen Befugnissen eingerichtet worden. Gegen Richter:innen werden Disziplinarverfahren eingeleitet, unter anderem weil sie EU-Recht angewendet und der Judikatur der Europäischen Gerichthöfe gefolgt seien. Daneben gebe es subtilere Formen der Einschüchterung wie etwa die Versetzung in andere Gerichtskammern oder zu anderen Gerichten. Richter:innen müssten auch ihre Mitgliedschaft zu jeglicher Art von Verein melden und werde diese Mitgliedschaft, auch etwa zu Sozialvereinen, dann im Internet veröffentlicht.

Carsten Zatschler, auf EU-Recht spezialisierter Rechtsanwalt (Barrister) in England, Wales und Irland, beleuchtete in seinem Beitrag die Rolle der Europäischen Kommission im Zusammenhang mit dem Rückbau der Rechtsstaatlichkeit in Polen kritisch. Seiner Meinung nach habe die Kommission zu wenig von der Möglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens Gebrauch gemacht und auch sonst zu wenig Druck durch Gerichtsverfahren ausgeübt. Dann schilderte er den Hintergrund der im August 2022 eingebrachten Klage der vier europäischen Vereinigungen von Richter:innen gegen den Europäischen Rat wegen der geplanten Auszahlung der Mittel des Recovery and Resilience Fund (RRP). Zunächst sei die Auszahlung von Mitteln aus der Aufbau- und Resilienzfazilität unter anderem an die Bedingung geknüpft worden, dass der Zugriff der Politik auf die Gerichte in Polen zurückgenommen werde und um Polen zur Umsetzung der Judikatur des EuGH und zur Einleitung von Reformen zu bewegen. Mit der Entscheidung des Rates seien jedoch nur bestimmten Kriterien (‚milestones‘) festgelegt worden, die Polen erfüllen sollte, um die Mittel zu erhalten. Die Erfüllung dieser Kriterien, wie etwa die Abschaffung bzw. Reorganisation der Disziplinarkammer beim Obersten Gerichtshof sollte Voraussetzung für die Auszahlung der Mittel sein. Die vier Vereinigungen seien der Ansicht, dass die Erfüllung allein dieser Kriterien nicht ausreichend sei, um der Rechtsprechung des EuGH zu entsprechen, und fordern daher von der Auszahlung der Mittel solange abzusehen, bis Polen alle Kriterien erfüllt habe. Das europäische Gericht I. Instanz habe zunächst entschieden, die Argumente in der Sache zu hören und erst danach über die Zulässigkeit der Klage zu entscheiden.

Aleksandra Wrzesińnska-Nowacka, Präsidentin der Vereinigung der polnischen Verwaltungsrichter:innen und Richterin am polnischen Verwaltungsgerichtshof, nahm in ihrem Vortrag Bezug auf die derzeitige Situation in Polen nach den Parlamentswahlen im Oktober 2023, die zu einer Änderung der Machtverhältnisse im Sejm geführt habe. Die drei bisherigen Oppositionsparteien stellen nun in der Koalition „Dritter Weg“ die Regierung. Für die meisten Vorhaben zur Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit und zur Rücknahme der Veränderungen im Justizwesen und in der Staatsanwaltschaft seien Gesetze erst zu verabschieden. Der Staatspräsident habe jedoch wiederholt festgehalten, dass er sein Veto gegen Gesetze einlegen werde, die auf Änderungen im Justizwesen, den Status von Richter:innen, abzielen, die auf Vorschlag des ab 2015 etablierten Nationalen Justizrats ernannt wurden, in den die Richter:innen vom Sejm berufen worden seien. Die Amtszeit des Präsidenten ende im August 2025. Verschiedene Gesetzentwürfe betreffend den Justizrat, die ordentlichen Gerichte, die Staatsanwaltschaft, den Obersten Gerichtshof und das Verfassungsgericht seien in Vorbereitung. Das Justizministerium arbeite an einem Gesetzentwurf über die Trennung der Funktionen des Generalstaatsanwalts und des Justizministers. Dieser Entwurf werde gegenwärtig von der Kodifizierungskommission geprüft. All diese Maßnahmen stellen jedoch weder die Richter:innen, die für die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit gekämpft haben, noch die Öffentlichkeit, die diese Maßnahmen unterstützt haben, zufrieden. Sie halten sie für zu langsam und unzureichend. Sie befürchten, dass die Politiker tiefgreifende Änderungen, insbesondere bei der Regelung des Status von zu Unrecht ernannten Richter:innen, aufgeben und den Forderungen des Präsidenten nachgeben werden. Diese Befürchtung habe sich noch verstärkt, da der Senat diesen Richter:innen das Recht auf Wiederwahl zum Nationalen Justizrat durch eine Novelle einräumen wolle.

Florian Geyer, Leiter der Abteilung für Rechtsstaatlichkeit in der Generaldirektion Justiz der Europäischen Kommission, schilderte online die europäische Sichtweise und erklärte die Unterschiede eines Vertragsverletzungsverfahrens und eines Art 7 EUV-Verfahrens. Er betonte in seinem Vortrag, dass es neben Polen weitere EU-Länder mit erheblichen Rechtstaatlichkeitsdefiziten gebe, und nannte dabei etwa Ungarn, Bulgarien und Rumänien. Aber auch Staaten, wie Österreich, würden im Rechtsstaatlichkeitsbericht der Europäischen Kommission immer wieder auf diverse Mängel im Rechtssystem hingewiesen werden. Der Rechtsstaatlichkeitsbericht sei eines von vielen Instrumentarien, die die Europäische Kommission einsetze, um die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten zu verbessern. Der EU-Rechtsstaatlichkeitsmechanismus ermögliche ein Verfahren für einen jährlichen Dialog zwischen der Kommission, dem Rat und dem Europäischen Parlament sowie mit den Mitgliedstaaten und deren Parlamenten, der Zivilgesellschaft und anderen Interessenträgern im Bereich der Rechtsstaatlichkeit. Der Bericht über die Rechtsstaatlichkeit (Rule of Law Report) sei das Fundament dieses neuen Verfahrens, in dem nicht nur Defizite angeführt, sondern auch Empfehlungen für die Behebung der angesprochenen Mängel abgegeben werden.

Als weiteres Instrument zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in den EU-Mitgliedstaaten nannte Florian Geyer das EU-Justizbarometer. Es biete einen jährlichen Überblick über Effizienz, Qualität und Unabhängigkeit der Justizsysteme. Es helfe den Mitgliedstaaten, die Effizienz der nationalen Justizsysteme zu verbessern, indem objektive, zuverlässige und vergleichbare Daten bereitgestellt werden. Das EU-Justizbarometer sei eine der Informationsquellen für den jährlichen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit.

In der anschließenden Diskussion wurde von Vertretern aus verschiedenen EU-Mitgliedstaaten Probleme der Rechtsstaatlichkeit in ihren jeweiligen Ländern aufgegriffen und mit den Impulsreferent:innen diskutiert.

Terminaviso: Der 21. Deutsche Verwaltungsgerichtstag findet von 2. bis 4. Juni 2027 in Osnabrück statt.

Hier geht’s zum Bericht von Eva Wendler

Siehe dazu bereits: Europäische Richter klagen Europäischen Rat wegen Polen

Teilen mit: