Martin Riedl, Rechtsanwalt in Wien, sprach in seiner Keynote über „Verwaltungsrichter:innen als Rechtsprechungsorgane einerseits und als Rechtsschutzsuchende andererseits“ und führte den Zuhörenden dabei eine Sicht von innen und außen vor Augen. Er stellte fest, dass die Unabhängigkeit der Richter:innen ohne Frage ebenso gewährleistet sei, wie der Schutz der Grundrechte.
In weiterer Folge setzte er sich aber auch mit Kritik auseinander, der Verwaltungsrichter:innen immer wieder ausgesetzt seien. Es fehle ein einheitliches Richterbild. Trotz der Unterschiede zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und Zivil- und Strafgerichtsbarkeit, die im Wesentlichen im Ausbildungssystem hervortreten, sah Riedl die Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichte ausreichend gesichert und stellte diese außer Frage.
Defizite verortete er hingegen im Rahmen der Dienstbeurteilung von Verwaltungsrichter:innen. So musste es erst zu einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes kommen, um überhaupt die Revisibilität der Dienstbeurteilungen erwirken zu können. Dennoch stelle die Revision im Gegensatz zum Rechtsmittel in der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit nur einen eingeschränkten Rechtsschutz dar, da der Verwaltungsgerichtshof, anders als der OGH, nur dann inhaltlich eine Überprüfung zulasse, nachdem zuerst die Revisionshürde bewältigt worden sei. Dies sei im Hinblick auf die zwingende Darlegung von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung eine Erschwernis, die eine erkennbare Ungleichbehandlung darstelle. Auch fehle es an einem Beschwerderecht der Verwaltungsrichter:innen gegen die Geschäftsverteilung – im Gegensatz zu § 27 GOG, was aus seiner Sicht eine planwidrige Lücke darstelle. Auch die mangelnde Parteistellung der Personalsenate sah er kritisch und forderte entsprechenden Rechtsschutz ein.
Als weiteren Punkt gab Riedl zu bedenken, dass insbesondere bei den Landesverwaltungsgerichten – aufgrund der mit der föderalen Struktur verbundenen Kleinheit der Einrichtungen – das Problem einer grundsätzlichen Befangenheit bestehe, da Kolleg:innen, die einem durchaus nahestehen können, zu beurteilen seien. Hier sollte man grundsätzlich über eine Delegierung [Anm.: wie etwa an ein anderes Verwaltungsgericht] nachdenken.
Als generell offenes Problem sprach Riedl auch das Thema „Anrechnung von Vordienstzeiten“ an. Hier habe es bereits drei Reparaturversuche gegeben, die in der Folge vor dem EuGH gescheitert seien. Besonders problematisch sei hier die unterschiedliche Geschwindigkeit, mit der die bisherigen Verfahren abgewickelt worden seien. So haben schneller getroffene Entscheidungen zu einer besseren Einstufung geführt, was eine Ungleichbehandlung darstelle, wie auch der EuGH in seiner rezenten Entscheidung bemerkt habe.
Abschließend offenbarte der Rechtsanwalt noch ein paar Wünsche, wobei er insbesondere eine effizientere, jedoch nicht wörtliche, Protokollierung, eine verbesserte digitale Akteneinsicht, kürzere Verfahrensdauer durch Aufstockung der Verwaltungsgerichte und die Möglichkeit der Schaffung eines Vergleiches hervorhob. In diesem Zusammenhang verwies er auf § 43 Abs 5 AVG, worin bereits jetzt auf Einigung und Ausgleich der Parteien hingewirkt werden soll; der verwaltungsgerichtliche Vergleich sei in Österreich – im Gegensatz zu Deutschland – jedoch noch nicht umgesetzt. Dennoch sei es aber auch aus Sicht eines Anwalts wichtig, dass Qualität vor Geschwindigkeit gehe.
Bei der das Programm abrundenden Podiumsdiskussion, stellten sich die Diskutant:innen den Fragen von Benedikt Kommenda, Journalist und Leiter des Rechtspanoramas bei der Tageszeitung Die Presse. Dabei ging es um eine Bestandsaufnahme und um Zukunftsperspektiven.
Andrea Müller-Dobler, Vizepräsidentin des Bundesfinanzgerichtes, betonte, dass die Verwaltungsgerichte unabhängig agieren, sich in ihrer Rechtsprechung erkennbar von der Verwaltung emanzipiert haben und die Äquidistanz zu den Parteien gewahrt sei. Das zeige sich insbesondere an zahlreichen Normprüfungsanträgen und Vorabentscheidungsersuchen an VfGH und EuGH. Insbesondere gebe es jedoch vor allem beim BFG Mängel bei der Bereitstellung von Ressourcen, was zu längeren Verfahrensdauern geführt habe. Auch bemängelte sie das Defizit an Rechtsschutz im Hinblick auf die Geschäftsverteilung. Dennoch sei es gelungen, mit einer neuen Form der Dienstaufsicht 70% der Altakten einer Erledigung zuzuführen. Komplexe Verfahren mit hunderten von Beteiligten benötigen einen gewissen Zeitaufwand. Es gelte auch den Gesetzgeber in die Pflicht zu nehmen, der durch bessere Gesetze sowohl materiell- als auch verfahrensrechtlich zu einer effizienteren Verfahrensführung beitragen könne. In diesem Zusammenhang führte sie auch die Verfahrensförderungspflicht im Sinn des § 266 Abs 4 BAO als positives Beispiel an, demzufolge nach entsprechender Fristsetzung auf Grund der Behauptungen des Beschwerdeführers zu erkennen sei. Im Vergleich zu anderen Gerichten sei im BFG auffällig, dass eine ausreichende Ausstattung mit nichtrichterlichem Personal nicht gegeben sei. Hier müsse das Ministerium nachbessern und nachbesetzen.
Abschließend legte sie dar, dass im Hinblick auf eine überalterte Belegschaft mehr Augenmerk auf den Wissenstransfer zu legen sei. Da viele Pensionierungen von Richter:innen anstehen, sei dringend Handlungsbedarf für Ausschreibungen und Nachbesetzungen gegeben.
Markus Thoma, Senatspräsident des Verwaltungsgerichtshofes, bestätigte aus Sicht der Standesvertretung der Verwaltungsrichter:innen, dass die Einrichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit gelungen sei, dabei aber auch nicht zu vergessen sei, dass Österreich das letzte Land in Europa gewesen sei, das die Verwaltungsgerichtsbarkeit I. Instanz eingeführt habe. Bei der Emanzipation der Verwaltungsgerichte sei die Eingliederung des BVwG in die Justiz ein wichtiger Schritt bei der Kontrolle der Verwaltung gewesen. Nach außen sichtbare unabhängige Strukturen wären auch bei den Landesverwaltungsgerichten wünschenswert. Beim Bundesfinanzgericht zeige sich das Problem, wenn der Kontrollierte die Ressourcen des Kontrollierenden in der Hand habe. Eine vergleichbare Situation liege auch bei den Landesverwaltungsgerichten vor. Nachdem aus europarechtlicher Sicht noch wichtige Schritte fehlen und europarechtliche Standards umzusetzen seien, sei nach der Reform vor der Reform.
Schon seit 2012 bestehen die Forderungen der Standesvertretungen nach einem vereinheitlichten Dienst- und Besoldungsrecht, einem einheitlichen Richterbild und transparenten und nachvollziehbaren Besetzungen. Insbesondere fehle bei der Besoldung der politische Wille, die nicht zu rechtfertigenden Einkommensunterschiede zu beseitigen. Bei den Besetzungen gebe es Verbesserungsbedarf, da der vom Personalsenat erstellte Besetzungsvorschlag nicht verbindlich sei. Vor allem aber fehle bei der Bestellung der Präsident:innen die Einhaltung europäischer Standards. Eine erhöhte Transparenz und die Mitwirkung eines Richtergremiums bei der Bestellung seien unabdingbar. So sollten die Verwaltungsgerichte jedenfalls aus der Kontrolle der jeweiligen Rechtsträger herausgelöst werden. Bei Ernennungsvorschlägen soll die Zusammensetzung der richterlichen Kommission geregelt sein und im Rahmen der Selbstverwaltung ein Vorschlag erstellt werden, der verbindlich sein soll. In diesem Zusammenhang verwies er auf die Reform der Leitungsfunktion für den OGH, die möglicherweise auch für die Verwaltungsgerichte aufgegriffen werden könne. Er wünsche sich, dass die Standesvertretungen von der Legislative bei Reformen eingebunden werden.
Aus Sicht der Wissenschaft betonte Barbara Cargnelli-Weichselbaum, Assistenzprofessorin am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien, dass an den Verwaltungsgerichten professionell geführte Verfahren zu beobachten seien und aufgrund der Wahrnehmungen der Parteien die gestellten Ansprüche an die Gerichtsbarkeit erfüllt werden. Gleichzeitig gab die Wissenschaftlerin zu bedenken, dass die Anforderungen an die Verwaltungsgerichte sehr hoch seien. Sie haben eine Ermittlungs- und Begründungspflicht, sie seien dabei einem hohen Druck ausgesetzt, und gebe es Leistungsbeurteilungen und Disziplinarverfahren. Es sei die Pflicht des Staates hier adäquate Bedingungen zu schaffen, damit man diesen Anforderungen bei entsprechender Aktenbelastung auch realistisch gerecht werden könne und die Unabhängigkeit der Richter:innen nicht gefährdet werde.
Die Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit erschließe sich bereits aus der Abkehr von der bisherigen Judikatur des VfGH zur Abgrenzung der Verwaltungsgerichtsbarkeit anhand der Höhe der Geldstrafen im Jahre 2011. Die Unabhängigkeit der Verwaltungsrichter:innen müsse vor dem Hintergrund des demokratischen Legitimationskonzepts auch im Zusammenhang mit der Diensthoheit der Landesregierungen sichergestellt sein.
In Bezug auf die Einhaltung europäischer Standards bei der Besetzung von Verwaltungsrichter:innen, aber auch von Leitungsfunktionen der Verwaltungsgerichte, war die Wissenschaftlerin überzeugt, dass der Druck aus Europa dazu führen werde, diese Vorgaben auch tatsächlich umzusetzen.
Es stelle sich die Frage, weshalb es laufend Dienstbeschreibungen geben soll, die die Unabhängigkeit der Richter:innen in Frage stellen, wenn es ohnehin die Möglichkeit von Disziplinarverfahren gebe. Nachdem die Dienstbeschreibung verschuldensunabhängig sei, sei es problematisch, dass sie zu einer Beendigung des Dienstverhältnisses führen kann. So sollten auch die Kriterien für die Leistungsfeststellungen und die Entscheidung darüber klar geregelt sein. Auch eine adäquate Besoldung sei für die Einhaltung europäischer Standards unabdingbar. Richter:innen müssen wirtschaftlich abgesichert sein und es müssen auch die Rahmenbedingungen sichergestellt sein.
Abschließend sprach Cargnelli-Weichselbaum das Problem des Ausschlusses einer Revision bei Bagatelldelikten an. Hier werde übersehen, dass auch Ersatzfreiheitstrafen verhängt werden. Nachdem die Armut mitten in der Gesellschaft angekommen sei, könne es zu Freiheitsstrafen durch Armut kommen.
Rechtsanwalt Michael Rohregger, Vizepräsident der Rechtsanwaltskammer Wien, sieht die Einführung der Verwaltungsgerichte als Erfolgsstory. Die Unabhängigkeit an den Verwaltungsgerichten sei sichtbar und spürbar und es gebe einen wesentlichen Unterschied zu der eingeschränkten Kontrolle der früheren „Art 133 Z 4 B-VG Behörden“ durch die Einfügung der Verwaltungsgerichte in das rechtsstaatliche Prinzip. Auch er sieht klar, dass sich die Verwaltungsgerichte von den Behörden und damit von der Verwaltung emanzipiert haben und ihre Tätigkeit als unabhängige Rechtsschutzeinrichtungen erfüllen, die Sicherheit schaffen.
Das Bestellungskonzept der Richter:innen sei ebenso zielführend. Es sei kein Problem, dass Verwaltungsgrichter:innen ihre beruflichen Wurzeln in den verwaltungsrechtlichen Materien haben; dies sei vielmehr ein Vorteil aufgrund der Expertise und Erfahrungen, die diese Richter:innen mitbringen. Befürchtete Vorbehalte zeigen sich in der Praxis nicht. Die Verwaltungsgerichte seien mit den ordentlichen Gerichten auf Augenhöhe und dies auf hohem Niveau. In der Verwaltungsgerichtsbarkeit werde die Ausbildung der Richter:innen anders konzipiert und diese nicht in gleicher Weise an ihre Tätigkeit herangeführt, wie dies in der Zivil- oder Strafgerichtsbarkeit der Fall sei, was jedoch nicht zu beanstanden sei.
Der Rechtsanwalt betonte auch ausdrücklich, dass Einflussnahmen oder Korruption bei den Verwaltungsgerichten kein Thema seien. Als Wunsch formulierte er, die flächendeckende Einführung des ERV und Vereinheitlichungen des Fristenlaufs für Eingaben unabhängig von der Einbringungsart und eine Verkürzung der Verfahrensdauer, vor allem beim BFG. Auch das Verfahrensrecht sollte evaluiert werden.
Abschließend hielt er fest, dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit einen Quantenspruch und eine echte Verbesserung darstelle. Es solle eine vollkommene Gleichstellung zwischen den Gerichtsbarkeiten hergestellt werden, insbesondere seien verfahrensrechtliche Verbesserungen aus Sicht der Anwaltschaft erforderlich.
Zur Frage, wie die Rolle von Verwaltungsrichter:innen in zehn Jahren mit den neuen Mitteln der künstlichen Intelligenz (Stichwort: ChatGPT) gesehen wird, wurde einhellig zwischen den Diskutant:innen prognostiziert, dass am Ende immer noch Richter:innen und damit Menschen über menschliche Existenzen als Grundrecht zu entscheiden haben und diese nicht zur Gänze durch KI ersetzt werden können. Allerdings sei nicht von der Hand zu weisen, dass diese Technologie auch in der Rechtsprechung ein immer größer werdender Faktor sein wird.