Nichts trägt mehr zur Unabhängigkeit von Richter:innen bei als feste Bezüge

Im Schlussantrag vom 13. Juni 2023 in der Rechtssache C-146/23 und C-374/23 betont Generalanwalt Anthony Collings zunächst, dass dieses Vorabentscheidungsersuchen dem EuGH die Gelegenheit bietet, seine Rechtsprechung zu den Bezügen von Richtern nach Art. 19 Abs. 1 EUV im Kontext der Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit und eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes Revue passiere zu lassen und zu erweitern. Dabei zitiert er Alexander Hamilton, der vorausschauend in The Federalist beobachtete, dass „NEBEN der Dauerhaftigkeit des Amtes nichts mehr zur Unabhängigkeit der Richter beitragen [kann], als feste Bezüge für die Deckung ihres Unterhalts. … Es liegt in der menschlichen Natur, dass MACHT ÜBER DEN UNTERHALT EINES MENSCHENS GLEICHBEDEUTEND MIT MACHT ÜBER SEINEN WILLEN IST. Und in jedem System, in dem die Staatsgewalt der Judikative von der gelegentlichen Zuweisung finanzieller Mittel durch die exekutive Gewalt abhängig bleibt, können wir niemals hoffen, dass eine vollständige Trennung der Ersteren von der Letzteren in der Praxis verwirklicht wird“.

Die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen ergehen im Zusammenhang mit der Umsetzung allgemein anwendbarer Maßnahmen zur Regelung der Bezüge von Richter:innen in Polen und Litauen und ersuchen die vorlegenden Gerichte den Gerichtshof um eine Bewertung der Rolle der Legislative und der Exekutive im Prozess der Festlegung der Bezüge von Richter:innen und bei deren etwaiger Kürzung. Ferner möchten sie wissen, ob sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV relevante Kriterien ableiten ließen, nach denen sich dieser Prozess richtet.

In der Sache schlägt der Generalanwalt dem EuGH vor, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen, dass

  • er dem Erlass von Rechtsvorschriften zur Kürzung der Bezüge von Richter:innen durch die Legislative und/oder die Exekutive der Mitgliedstaaten, einschließlich im Wege von nach nationalem Recht ausverhandelten Tarifverträgen, nicht entgegensteht;
  • die Mitgliedstaaten einen rechtlichen Rahmen festlegen müssen, damit die Bezüge von Richter:innen festgesetzt werden können und mit dem die richterliche Unabhängigkeit dadurch geschützt werden soll, dass die Höhe der Bezüge von Richter:innen der Bedeutung ihrer Funktionen entspricht. Rechtsvorschriften über die Bezüge von Richter:innen müssen auf relevanten, objektiven und überprüfbaren Kriterien beruhen, die dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen;
  • eine Beurteilung der Angemessenheit der Bezüge von Richter:innen alle relevanten sozioökonomischen Faktoren in Bezug auf die Entwicklung dieser Bezüge im Laufe der Zeit berücksichtigen muss.
  • jede nationale Rechtsvorschrift zur Kürzung der Bezüge von Richter:innen die Gründe hierfür klar darzulegen hat. Daraus folgende Kürzungen der Bezüge von Richter:innen müssen vorübergehend sein. Ihr Ausmaß und ihre Dauer müssen auf die Ernsthaftigkeit und das Fortbestehen der Umstände, die ihren Erlass rechtfertigten, zugeschnitten sein und sich diesen entsprechend entwickeln. Keinesfalls dürfen solche Kürzungen der Bezüge auf eine Benachteiligung der Richterschaft abzielen.
  • Regelungen über die Bezüge von Richter:innen bzw. jegliche Kürzungen derselben einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich sein müssen.

Hier geht es zum Schlussantrag …

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