Nordirland: Rechtsstaatlichkeit im Schatten der Vergangenheit (1)

Bericht von der VRV-Studienreise nach Belfast im September 2023

Die Berichte über den Nordirlandkonflikt sind seit dem sog. „Good Friday Agreement“ (Karfreitag-Abkommen) bzw. „Belfast Agreement“ im Jahr 1998 immer mehr aus unseren Nachrichten verschwunden. Für die Menschen vor Ort sind aber der 30-jährige Bürgerkrieg („Troubles“ genannt) und seine Folgen nach wie vor omnipräsent, auch vor Gericht. Das zeigten die Vorträge und Diskussionen im Rahmen unserer Studienreise.

Den nordirischen Kolleginnen und Kollegen – allen voran Lord Justice Bernard McCloskey, der auch in der europäischen Verwaltungsrichtervereinigung aktiv ist – lag erkennbar daran, der „Austrian Delegation“ Einblick in die Probleme zu geben, mit denen die Gerichte in ihrer täglichen Arbeit konfrontiert sind. Das dicht gedrängte Programm umfasste die Teilnahme an einer Verhandlung vor den „Royal Courts of Justice“ ebenso wie Fachvorträge und Präsentationen der Law Schools an der Ulster University und der Queen’s University, einschließlich der Teilnahme an der Verhandlung eines „Moot Courts“ zum „Judicial Review“.

Anwendung der Menschrechtskonvention ausgesetzt, Aufarbeitung der Vergangenheit stockt

Und die Probleme, mit denen die Gerichte in Nordirland konfrontiert sind, sind in der Tat vielschichtig und tiefgreifend. So wurde die Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention während des 30-jährigen Konflikts vom Vereinten Königreich gem. Art.15 EMRK ausgesetzt, mit der Folge, dass Beschwerden gem. Art 2 und 3 EMRK wegen Folter und außergerichtliche Tötungen vom EGMR abgewiesen wurden (McCann vs UK, 27.09.1995, McKerr vs UK, 04.05.2001). Erst seit dem Jahr 2000 können sich Gerichte im Nordirland in ihren Entscheidungen wieder auf Bestimmungen der Menschrechtskonvention stützen.

Das Karfreitags-Abkommen – rechtlich gesehen ein internationaler Vertrag zwischen dem United Kingdom, der Republik Irland und acht nordirischen Parteien – sah die Souveränität Nordirlands vor, mit einem eigenen Parlament und einer Regierung, die von beiden Lagern gebildet wird (Unionisten und Republikaner).  Darüber hinaus sollte eine objektive Aufarbeitung ungeklärter Todesfälle erfolgen (Coroner’s Inquest System), Straftäter zur Verantwortung gezogen werden und öffentliche Untersuchung bestimmter Ereignisse wie dem „Bloody Sunday“ vom 30. Jänner 1971 erfolgen, bei dem englische Soldaten in Derry 13 Teilnehmer eines Bürgerrechtsmarsches töteten. 

Die gegenseitige Blockade von Unionisten und Republikanern, die nach dem Abkommen eine gemeinsame Regierung bilden müssen, führte dazu, dass das nordirische Parlament seit dem Jahr 2000 nur selten zusammengetreten ist. Damit werden die Gesetze für Nordirland wieder von Westminster (britisches Parlament) erlassen, was im Grund in Widerspruch mit der nordirischen Souveränität steht und in den Gerichtsverfahren wiederum zu Anwendungsproblemen führt.  Die Aufarbeitung nicht geklärter Todesfälle stockt, mehrere Dutzende dieser Coroner’s Inquest sind nach wie vor nicht beendet. Dies liegt insbesondere an dem Umstand, dass die Frage ungelöst blieb, ob ein Zeuge, der an der Tat beteiligt war, Immunität genießen darf oder nicht. Nur eine Handvoll von Straftäter wurde verurteilt, die meisten der Urteile sind nach wie vor nicht rechtskräftig. Aktuell plant die britische Regierung überhaupt die Straflosigkeit für alle Verbrechen aus dem Nordirland-Konflikt.

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