Im Februar hatte der EuGH entschieden, dass die Verknüpfung von Fördergelder mit dem EU-Rechtsstaatsmechanismus rechtens ist. Jetzt schafft Polen zwar die umstrittene Disziplinarkammer ab, die Politisierung der Justiz wird aber fortgesetzt.
Von einem „Dritten Weltkrieg“ unkte Polens Premier Mateusz Morawiecki noch vor sieben Monaten bei einer Rede vor den EU-Parlamentariern. Gemünzt war die Attacke auf den EU-Rechtsstaatsmechanismus, an den die Auszahlung von Fördermitteln geknüpft ist. Seit Ende Februar herrscht tatsächlich Krieg in Europa, noch dazu vor der Haustür Polens; es grenzt an die von Russland überfallene Ukraine. Ein Streit innerhalb der Union sei zum jetzigen Zeitpunkt unnötig, befand Polens Präsident Andrzej Duda bereits kurz vor Kriegsausbruch.
Mehr als drei Monate verstrichen seitdem. Letzte Woche sandte die Regierung unter Führung der nationalkonservativen Partei PiS ein Zeichen der Entspannung: Mit den Stimmen ihrer Abgeordneten wurde beschlossen, dass die Disziplinarkammer am Obersten Gericht abzuschaffen ist. Das Gremium kann jeden Staatsanwalt und Richter entlassen. Mit dem Landesjustizrat zur Auswahl aller Richter ist die Disziplinarkammer Herzstück des Vorhabens, die Justiz unter politische Kontrolle zu bringen.
Derartige Institutionen müssten entweder aufgelöst oder in die Unabhängigkeit entlassen werden, urteilte der Europäische Gerichts (EuGH) bereits im Juli vergangenen Jahres. Später verfügte das Gericht, dass die Tätigkeit der Kammer gestoppt wird. In Warschau stellten sich die Entscheidungsträger aber taub. Das rief die EU-Kommission auf den Plan. Sie beantragte beim EuGH Strafzahlungen gegen Polen, über die Ende Oktober geurteilt wurde. Eine Million Euro betrug die festgesetzte Pönale – pro Tag.
Auch die Strafzahlungen akzeptierte Polens Regierung nicht. Das galt auch für jene 500.000 Euro täglich, die Polen laut EuGH zu leisten hat, bis das Braunkohlekraftwerk Turow außer Betrieb geht. Tschechien hatte Polen geklagt, im Februar einigten sich dann die Nachbarländer. Als Ausgleich für die ausbleibenden Strafzahlungen verrechnet die Kommission Polen zustehende Fördergelder gegen. Laut „Süddeutscher Zeitung“ sollen 170 Millionen Euro bis Mitte Mai auf diese Weise zurückgehalten worden sein. Ungleich höhere Summen blockiert die Kommission beim Corona-Wiederaufbaufonds. 36 Milliarden Euro sind für Polen vorgesehen, davon entfallen 24 Milliarden Euro auf nicht rückzahlbare Zuschüsse.
Präsident soll auswählen
Zwar ist Polen mit 13,2 Milliarden Euro alleine 2020 mit Abstand größter Nettoempfänger aus dem EU-Haushalt. Die PiS-geführte Regierung braucht aber dringend weitere Mittel aus der Union. Sie betreibt seit Jahren eine umfangreiche Sozialpolitik. Die Pandemie hat wie überall schmerzhafte Budgetlöcher verursacht. Das Haushaltsdefizit verzehnfachte sich im ersten Corona-Jahr 2020 auf umgerechnet rund 36 Milliarden Euro, 2021 stand ein Minus von knapp 11 Milliarden Euro zu Buche. Heuer wurde, um die Teuerungswelle für die Bürger abzufedern, die Mehrwertsteuer für Lebensmittel und Gas im ersten Quartal komplett gestrichen.
Die Abschaffung der Disziplinarkammer – sie muss noch vom polnischen Senat bestätigt werden – hat daher wenig mit einem Kurswechsel hin zu mehr Rechtsstaatlichkeit in Polen zu tun. PiS hofft, dass die Kommission nun endlich Gelder freigibt.
Deren Präsidentin, Ursula von der Leyen, stellte vorab drei Forderungen: Abschaffung der Disziplinarkammer, eine Reform des Disziplinarsystems für Richter und die Wiedereinstellung unrechtmäßig entlassener Richter. Am Donnerstag hieß es in Warschau, statt der Disziplinarkammer werde eine „Kammer für berufliche Verantwortung“ eingerichtet. Dazu sollen aus allen Richtern des Obersten Gerichts mit Ausnahme des Gerichtspräsidenten Personen ausgelost werden. Elf von ihnen werde Präsident Duda auswählen, sie sind auf fünf Jahre bestimmt. Die Politisierung bleibt somit aufrecht: Duda war über Jahre Abgeordneter der PiS, trat erst nach seinem Aufstieg an die Staatsspitze aus.
Ob diese „Reform“ der Kommission und den anderen EU-Ländern genügt? Ursula von der Leyen wird kommende Woche in Warschau erwartet. Ab Montag tagen die Staats- und Regierungschefs der Union bei einem Sondergipfel. Möglicherweise wird Polen belohnt, weil es mit seiner Russland-Kritik recht behalten hat, so viele Flüchtlinge aus der Ukraine beherbergt wie kein anderer EU-Staat und nicht die Einigkeit der Union öffentlich torpediert – wie Polens langjähriger Verbündeter Ungarn, der sein Ja zum Ölembargo Russlands mit Milliarden abzupressen versucht.
Der Krieg überdeckt derzeit fast alles. Auch, dass das polnische Verfassungsgericht vergangenen Herbst den Vorrang von EU-Recht vor nationalen Regeln teils verneinte – und damit an einem Anker der Union rüttelte. Rechtsstaatlichkeit wird unter einer PiS-geführten Regierung wohl ein Problemthema bleiben.
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Siehe dazu auch: EU darf Rechtsstaatlichkeit erzwingen …