Mit den praktischen Erfahrungen verschiedener Berufsgruppen und Fragen des Rechtsschutzes beschäftigte sich die Podiumsdiskussion im zweiten Teil der Veranstaltung.
40.000 Entschädigungsanträge offen
Die Leiterin des Verfassungsdienstes des Landes Steiermark, Waltraud Bauer-Dorner, schilderte, welche Herausforderungen die Behörden bei Beginn der Pandemie zu bewältigen hatte. Der Verfassungsdienst war dabei Anlaufstelle für Behördenanfragen bei der Auslegung der Gesetze und Verordnungen. Als eine der ersten Maßnahmen wurden die landesgesetzlichen Bestimmungen nach Regelungen durchforstet, bei denen in den Fristenlauf eingegriffen werden musste. Dabei habe man sich am verwaltungsrechtlichen COVID-19-Begleitgesetz des Bundes orientiert, da dieses von guter Qualität war und man auf diese Weise auch einen einheitlichen Vollzug gesetzlicher Bestimmungen gewährleisten wollte. Bis Juni 2020 seien rund 2.000 Entschädigungsanträge nach dem Epidemie-Gesetz in der Steiermark gestellt worden, mittlerweile seien 40.000 derartige Anträge offen.
Zum Rechtsschutz stellte die Leiterin des Verfassungsdienstes fest, aus ihrer Sicht sei die Einführung einer 1-G-Regel auf Grundlage des derzeit geltenden Covid-19-Maßnahmengesetzes unzulässig, da Anknüpfungspunkt dieses Gesetzes die Testpflicht sei.
Rolle der Verwaltungsgerichte als Grundrechtsgerichte unterschätzt
Der Dekan der juristischen Fakultät der Universität Graz, Christoph Bezemek, verwies auf den Umstand, dass für die Rechtswissenschaft zu Beginn der Pandemie eine rechtliche Einordnung der Corona-Maßnahmen schwierig gewesen sei, da nur wenig zuverlässige Fakten bekannt gewesen seien. Da die Zeit von Ungewissheit und Unsicherheit geprägt gewesen sei, sei auch die Frage, ob normativ adäquat regiert wurde, nur schwer zu beantworten gewesen.
Zur Frage eines effektiven Rechtsschutzes stellte Bezemek fest, die Rolle der Verwaltungsgerichte als Grundrechtsgerichte sei in Österreich unterschätzt. Die generell-abstrakte Normenkontrolle obliege in Österreich aber ausschließlich dem Verfassungsgerichtshof. Nach den Erfahrungen die vergangenen Monate sei jedoch die Frage berechtigt, ob dieser Rechtsschutz in der aktuellen Form noch ausreichend sei.
Strafen nicht zurückerstattet
In seiner Eigenschaft als Anwalt verwies Alfred Noll darauf, dass die Anwälte bei ihrer Berufsausübung von den Corona-Beschränkungen nicht betroffen gewesen seien. Es hätten sich zwar viele Bürgerinnen und Bürgern, die mit den Maßnahmen der Bundesregierung nicht einverstanden waren, an Anwälte gewandt, allerdings sei nach seinen Erfahrungen die Bereitschaft der Anwaltschaft, hier Verfahren zu führen, relativ gering gewesen.
Noll wies darauf hin, dass die Gesetzwidrigkeit der Ausgangsbeschränkungen im ersten Lockdown lange vor deren Aufhebung durch den Verfassungsgerichtshof allgemein bekannt gewesen sei. Trotzdem seien rund 20.000 Strafen, die auf Grund dieser Verordnung verhängt und bezahlt wurden, nicht rückerstattet worden. Diese führe zu einem Vertrauensverlust gegenüber dem Recht im Allgemeinen, aber auch gegenüber dem Rechtsstaat. Die Debatte um einen vorläufigen Rechtsschutz gegen Verordnungen sei notwendig.
Grundrechtseinschränkung ohne Rechtsschutz
Markus Thoma stellte als Vertreter des Dachverbandes der Verwaltungsrichter (DVVR) fest, es sei der Eindruck entstanden, die Maßnahmen der Bundesregierung zur Pandemiebekämpfung seien weniger evidenzbasiert erfolgt, sondern politisch ausgehandelt worden. Jedenfalls sei eine Hyperaktivität bei der Normensetzung zu beobachten gewesen. Die Freiheitsbeschränkungen seien durch Verordnungen ohne Rechtschutzmöglichkeit erfolgt. Dies sei ein Indiz für eine Machtverschiebung von der Legislative zur Exekutive.
Schnellerer Rechtsschutz durch VfGH wäre möglich gewesen
Alfred Noll wies darauf hin, dass es nach dem VfGG jederzeit möglich und wohl angesetzt gewesen wäre, aufgrund der Brisanz und der weitreichenden Grundrechtseingriffe früher Sondersessionen anzuberaumen und nicht erst nach drei Monaten die Verordnungen als verfassungswidrig zu beheben.
Kein Rechtsschutz bei Coronahilfen
Eine Aushebelung des Rechtsschutzes sei auch bei der rechtlichen Ausgestaltung der Corona-Hilfen zu beobachten. Die Festsetzung und Auszahlung dieser Hilfen sei nicht durch eine Behörde vorgenommen worden, sondern sei dafür eine eigenes – privates – Unternehmen gegründet worden (COFAG – COVID-19-Finanzierungsagentur des Bundes GmbH). Damit hätten aber Antragsteller praktisch keine Möglichkeit, sich rechtlich dagegen zu wehren, wenn sie keine oder zu wenig Hilfe ausbezahlt erhalten haben. Auch eine Überprüfung der Gesetzmäßigkeit der Auszahlung sei damit unmöglich und das, obwohl das Volumen der von der Agentur ausbezahlten Coronahilfen rund 15. Mrd Euro betrage.