Das war das 26. Maiforum (2)

In einem erwartungsgemäß pointierten Vortrag zum Thema „Notstand ohne Notstandsgesetze“ stellte Alfred Noll die Frage, woher wir die Gewissheit für die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Grundrechtseinschränkungen nehmen.

Nach seinem Befund stimmt das Verhältnis zwischen dem Gesundheitsschutz und der Einschränkungen der persönlichen Freiheiten nicht mehr. Eine Einschränkung der Grundrechte durch den absoluten Vorrang des Rechts auf Gesundheit und Leben sei unzulässig, diese Einschränkung erfolge auch in anderen Lebensbereichen nicht, wie etwa im Straßenverkehr oder im Umweltbereich. Mit Fortdauer der Pandemie zeige sich auch, dass die Regierung im „Jo-Jo“-Effekt ihrer Maßnahmen gefangen sei. Jede Einschränkung machen Lockerungen notwendig, welche wieder zu Einschränkungen führen usw.  Zudem sei zu beobachten, dass die – unbeabsichtigten – Nebeneffekte der Corona-Maßnahmen oft größer seien als die angestrebten Effekte.

Exekutive ist Krisengewinner

Nach Auffassung von Noll ist die Exekutive Krisengewinner der Pandemie, da diese vom Parlament mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet wurde und so ein Regieren mittels Verordnung ohne parlamentarische Kontrolle ermöglicht wurde. In der Pandemie sei in administratives Krisenmanagement der Exekutive zu beobachten gewesen, eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen sei nicht erfolgt. Noll erhob abschließend die Forderung, den Rechtsstaat krisenfester zu machen.

Mit der Praxis der rechtlichen Überprüfung der Corona-Maßnehmen in Deutschland beschäftigte sich Matthias Hettich, Verwaltungsrichter am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem Vortrag. Zentrales Rechtsschutzinstrument war in Deutschland dabei der einstweilige Rechtsschutz durch die Verwaltungsgerichte (§ 47 Abs. 6 VwGO).

Damit konnten Betroffene die Verordnungen der Bundesländer, mit denen Eingriffe in Grundrechte zur Pandemiebekämpfung erfolgten, von den Verwaltungsgerichten überprüfen und – wie in zahlreiche Fällen auch geschehen – ungültig erklären lassen. In diesen Fällen gilt die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht nur für den Antragsteller, sondern „erga omnes“.

Hettich präzisierte in seinem Vortrag den Ablauf der Verfahren und den Prüfungsmaßstab der Verwaltungsgerichte (Prüfungstiefe, Interessensabwägung) in diesen Verfahren. Die Entscheidungen werden ohne mündliche Verhandlung und Beweisaufnahme auf Grund der Aktenlage getroffen. Den Antragsgegner wird die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt, die Entscheidung trifft ein 3-Richtersenat innerhalb weniger Tage, dagegen ist – mit Ausnahme einer Verfassungsbeschwerde – kein Rechtsmittel möglich. Die Unanfechtbarkeit dieser Entscheidungen hat aber auch den Effekt, dass es heute noch keine – in der Sache – abschließende höchstgerichtliche Rechtsprechung zu zentralen Fragen des deutschen Infektionsschutzgesetzes gibt.

Justiz ist Krisengewinner in Deutschland

Neben der großen Zahl der Verfahren und die kurzen Entscheidungsfristen war laut Hettich vor allem die unklare Tatsachengrundlage, auf der die Entscheidungen zu treffen waren, die größte Herausforderung für die Verwaltungsgerichte. Ferner wurde bisher von den verschiedenen Verwaltungsgerichten auch der Prüfungsmaßstab im Rahmen der Eilverfahren unterschiedlich gesehen (etwa ob Maßstab eine Willkürgrenze oder aber etwa die Frage einer Diskriminierung ist).

Hettich verwies auch auf den Druck, der von der Politik auf die Verwaltungsgerichte ausgeübt wurde. Den Gerichten wurde unterstellt, der Politik wichtige Instrumente zur Pandemiebekämpfung aus der Hand zu nehmen. Tatsächlich aber hätten die Verwaltungsgerichte in der bei weitem überwiegenden Anzahl der Verfahren die Anträge abgewiesen, was ihnen auch den medialen Vorwurf eingebracht habe, sie würde die Maßnahmen der Regierung „durchwinken“.

Zusammenfassend sah Hettich die Justiz jedoch als Krisengewinner in Deutschland.

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