Justizreform in Polen: Nahkampf um den Rechtsstaat

Seit Jahren diffamiert die polnische Regierung Richterinnen und Richter, wirft ihnen Korruption vor. Jetzt fahren sie durchs Land und werben um Vertrauen. Zu spät? (Eine Recherche ermöglicht durch das Journalistenstipendium der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit).

Zum Kampf um die polnische Demokratie sind nur ein paar Dutzend Menschen gekommen. Popmusik dröhnt aus Lautsprecherboxen, mischt sich unter das Geschrei spielender Kinder. Auf einer allzu großzügig abgesperrten Rasenfläche in Biłgoraj, einer Kleinstadt unweit der ukrainischen Grenze, verlieren sich die Neugierigen. Mit verschränkten Armen beobachten sie den Mann in T-Shirt und ausgewaschenen Jeans, der durch das Publikum wandert.

Immer wieder bleibt Igor Tuleya vor den Menschen stehen und reicht ihnen eines der rot-weißen Hefte, die er unter den Arm geklemmt hat: ein Exemplar der Verfassung, auf Polnisch „Konstytucja“. Tuleya ist Richter am Bezirksgericht in Warschau, die Verfassung ist das Fundament seiner Arbeit. Aber die Verfassung ist nur bedrucktes Papier, sie ist wertlos, wenn es kein Vertrauen gibt: Vertrauen in diese Verfassung. Vertrauen in den Rechtsstaat. Und Vertrauen in die Richter, die ihn vertreten.

Genau dieses Vertrauen aber untergräbt die nationalkonservative PiS-Regierung seit ihrem Amtsantritt Ende 2015. In der Justiz säßen noch viele alte Kommunisten, wird behauptet. Richter und Staatsanwälte seien korrupt, heißt es. Und deshalb, argumentiert die PiS, sei die Justizreform notwendig, die sie seit jetzt sechs Jahren betreibt.

Sie hat am Verfassungsgerichtshof parteinahe Richter installiert, ebenso am Obersten Gericht, sie hat die Staatsanwälte im Land dem Justizminister unterstellt. Die Europäische Union hat gegen all diese „Reformen“ scharf protestiert. Was die PiS ihre „Justizreform“ nennt, ist nach Einschätzung der EU ein Angriff auf die Gewaltenteilung, auf den Rechtsstaat. Auf die Werte Europas.

Gemeinsam mit anderen Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwältinnen ist Igor Tuleya deshalb in den vergangenen zwei Monaten kreuz und quer durch Polen gereist. Ihre „Verfassungstour“, die Tour de Konstytucja, führte sie in mehr als 80 Städte und Gemeinden. Sie fuhren durchs Land, um mit Bürgern über deren Rechte zu diskutieren, über die Verfassung und über das Vertrauen in den Rechtsstaat. Auch dort, wo der Rückhalt längst verloren scheint – gerade dort. Die ZEIT hat sie auf ihren letzten Stationen begleitet.

Polen und die EU: Letzter Ausweg Polexit?

In Biłgoraj bittet einer der Richter eine Freiwillige aus dem Publikum zu sich, hilft ihr in eine lange schwarze Robe, unter der ihre weißen Sneaker hervorblitzen. Dann lässt sie sich die schwere Richterkette mit dem silbernen Adler um den Hals legen. „Ich eröffne den Fall …“, spricht sie mit ernster Stimme ins Mikrofon. Ihr gegenüber sitzt Richter Tuleya im Zeugenstand. Er spielt einen Polizisten. Ein Rollenspiel, das den Bürgerinnen und Bürgern das Justizsystem näherbringen soll.

Igor Tuleya zählt zu den prominentesten Kritikern der Justizreform. Seit 25 Jahren steht der 51-Jährige im Dienst des polnischen Staates. Doch im vergangenen Herbst hob die von der PiS neu geschaffene Disziplinarkammer seine Immunität auf und suspendierte Tuleya von seinem Amt. Ihm wird vorgeworfen, er habe seine richterlichen Kompetenzen überschritten, als er in einem Verfahren gegen die PiS im Gerichtssaal Journalisten zuließ. Zuvor hatte er immer wieder gegen die Regierungspartei geurteilt. Inzwischen laufen sieben Disziplinarverfahren gegen ihn.

„Die Politik nutzt die Verfassung für ihre Zwecke“

Im April, erzählen Juristen, die ihn damals unterstützten, habe Tuleya nächtelang wach gelegen, aus Angst, die Polizei könne am frühen Morgen seine Wohnung stürmen, um ihn abzuholen und vor Gericht zu stellen. Damals habe ihm die Solidarität vieler Kolleginnen und Kollegen geholfen. Als sein Gehalt gekürzt wurde und nicht klar war, ob er den Kredit für seine Wohnung weiterbezahlen könne, hätten ihn andere Richter mit Spenden unterstützt.

Die Disziplinarkammer, die unliebsame Urteile aufheben kann und gegen Richterinnen und Richter wie Tuleya vorgeht, hat sich mittlerweile zum Hauptstreitpunkt zwischen Polen und der EU entwickelt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat Mitte Juli geurteilt, die Kammer müsse ihre Arbeit einstellen, sie sei unvereinbar mit europäischem Recht, da es keine ausreichenden Garantien für ihre „Unabhängigkeit und Unparteilichkeit“ gebe.

„Wir wollen bei den Menschen Interesse für das wecken, was in Polen und der Welt geschieht“, erklärt Tuleya das Anliegen der Verfassungstour im Interview: „Wir wollen, dass sie sich für ihre eigenen Rechte interessieren.“ Bis vor ein paar Jahren hätten nicht viele Polen gewusst, was das polnische Verfassungsgericht mache oder dass es europäische Gerichte gebe. Die Richterinnen und Richter, das schwingt als Selbsterkenntnis mit, hätten ihre Akten bearbeitet, sich aber nicht um Rückhalt in der Bevölkerung gekümmert.

Am nächsten Tag sitzen die Richter mittags wieder im Bus. Am Steuer Robert Hojda, ein Mann mit Tattoos auf den Oberarmen. „Die Richter sind die letzte Bastion vor der Diktatur. Wenn es sie nicht mehr gibt, steht Polen und Europa eine dunkle Zukunft bevor“, sagt Hojda. Er ist Vorsitzender des Kongresses Demokratischer Bürgerbewegungen, eines Bündnisses prodemokratischer Kräfte. Gemeinsam mit Adam Bodnar, dem ehemaligen Ombudsmann Polens, hat er die Tour organisiert. Hojda sagt: „Die Politik nutzt die Verfassung für ihre Zwecke. Aber es ist unsere Verfassung. Wir müssen für sie kämpfen.“

Dazu haben sie in den vergangenen Wochen Verfassungsquiz gespielt, auf Podien diskutiert und sogar ein Lied über die Verfassung eingesungen. 84-mal eröffnete die aus den Lautsprechern dröhnende Präambel die Veranstaltung, 84-mal versammelten sich am Ende die Besucher um eine polnische Verfassung, um sie zu unterschreiben.

Auch Monika Frąckowiak hat sich auf der Tour den Fragen der Bürger gestellt. Anders als Tuleya darf sie noch als Richterin arbeiten. Doch das könnte sich bald ändern. Insgesamt fünf Disziplinarverfahren laufen inzwischen gegen sie. Unter anderem, weil sie das mit Gefolgsleuten der PiS-Regierung besetzte Verfassungsgericht in Warschau eine „Scheininstitution“ genannt hat und im Europäischen Parlament den Justizminister kritisierte. Wegen des EuGH-Urteils sind die Ermittlungen gegen Frąckowiak derzeit unterbrochen.

Die Verleumdungskampagne gegen sie aber läuft weiter. Frąckowiak erhielt Morddrohungen auf Twitter, ihre Adresse und die Namen ihrer Töchter wurden öffentlich gemacht. „Die Kommentare stecken voller Hass“, sagt Frąckowiak. Die 47-Jährige ist davon überzeugt, dass das Justizministerium systematisch sensible Daten an Twitter-Accounts weitergebe, um Richter einzuschüchtern. Aber sie will nicht aufgeben: „Meine Eltern waren Mitglieder der Gewerkschaft Solidarność. Ich will nicht, dass alles umsonst war, wofür sie in den 1980er-Jahren gekämpft haben.“

Doch die Kampagne gegen die Richter verfängt. Eine Studie aus dem Jahr 2019 zeigt, dass das Vertrauen in Richterinnen und Richter, das in Polen ohnehin weit weniger stark ausgeprägt ist als in anderen EU-Mitgliedsstaaten, bereits in den zwei Jahren nach Regierungsantritt der PiS deutlich gesunken ist. Auch die im staatlichen Fernsehen gezeigte Serie Kasta mag dazu beigetragen haben. In ihr erleiden die Protagonisten allerlei Nachteile durch die Machenschaften von Richtern und Anwälten. Umso wichtiger sei es, sagt Frąckowiak, jetzt zu versuchen, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger zurückzugewinnen.

Von der EU enttäuscht

Die nächste Stadt, die der silberne VW-Bus ansteuert, ist Chełm, ähnlich wie Biłgoraj eine Hochburg der PiS. Bei den vergangenen Parlamentswahlen haben hier 60 Prozent der Bewohner für die Regierungspartei gestimmt. Orte wie diese liegen den Richtern besonders am Herzen. Denn hier, im Osten und Süden des Landes, wo die Menschen vergleichsweise religiöser und ärmer sind, spiele das staatliche Fernsehen eine große Rolle. Unabhängige Medien würden die Menschen kaum noch erreichen. Auch, weil der einzige kritische Nachrichtensender eigens gegen eine Gebühr freigeschaltet werden muss.

Als sie auf dem Dorfplatz in Chełm aus dem Bus steigen, regnet es. Gerade einmal 20 Menschen sind gekommen, überwiegend Fans. Mit aufgespannten Regenschirmen drängen sie sich um Tuleya, wollen Fotos mit der Handykamera machen, stehen Schlange für eine Unterschrift. Aber Tuleyas Augen wirken, wie so oft an diesen Tagen, als schaute er ins Leere. In solchen Momenten, sagt er später, fühle er sich oft unwohl, eigentlich sei er ein Einzelkämpfer. Und warum macht er trotzdem alles mit? „Wenn wir jetzt nicht das Vertrauen der Leute zurückgewinnen, dann weiß ich auch nicht, was man noch tun kann.“

Seit Jahren erhält auch Tuleya Hass-Mails und Morddrohungen auf Twitter. Zweimal wurden Briefe mit weißem Pulver an sein Gericht geschickt, woraufhin es evakuiert werden musste. Als er vor einem Monat in Warschau aus der Post kam, ballte ein Mann die Faust und holte zum Schlag aus. Tuleya konnte den Angreifer gerade noch abwehren.

Auch die Verfassungstour wurde häufig gestört, es gab Geschrei: „Lügner, Kommunisten!“ Trotzdem habe er versucht mit allen Kritikern ins Gespräch zu kommen, sagt Tuleya. „Ich weiß nicht, ob wir sie davon überzeugen konnten, dass die Rechtsstaatlichkeit eine wichtige Sache ist, aber zumindest haben wir es geschafft, dass viele Leute in uns Menschen gesehen haben, mit denen es sich zu sprechen lohnt.“

Mittlerweile hat die Regierung in Warschau ein Einlenken signalisiert. Mehrere führende PiS-Politiker kündigten an, man werde die Disziplinarkammer abschaffen oder reformieren. Es werde auch keine neuen Disziplinarverfahren mehr geben. Tuleya aber bleibt skeptisch. Die polnische Regierung habe nicht die Absicht, die Justizreform rückgängig zu machen, ist er sich sicher. Vielmehr stecke hinter den Erklärungen der Versuch, die EU zu täuschen, um Strafzahlungen zu verhindern und sich die Finanzmittel aus dem Corona-Wiederaufbaufonds zu sichern, die die EU-Kommission derzeit noch zurückhält. An der Lage des polnischen Rechtsstaats ändere das nichts.

Auch nichts an seiner Situation: Tuleya darf noch immer keine Urteile fällen und muss weiter mit einer Gefängnisstrafe von bis zu zwei Jahren rechnen. Nach sechs Jahren Kampf ist er erschöpft. Und von der EU enttäuscht: „Wenn sie jetzt nichts unternimmt, kann sich das noch jahrelang hinziehen.“ Auf der Internetseite der Disziplinarkammer wurden bereits neue Verfahren gegen Richter angekündigt.

Am Dienstag wollte das polnische Verfassungsgericht ein Grundsatzurteil über das Verhältnis Polens zur EU verkünden. Beobachter sprachen von einem möglichen Einstieg in den Ausstieg aus der EU. Kurz vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe der ZEIT wurde jedoch bekannt, dass das Gericht die Entscheidung auf den 22. September verschoben hat.

Hier geht’s zum Artikel in der Zeit online …

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