VfGH Judikatur: Betretungsverbot für Sportbetriebe und Auskunftspflicht von Gastronomen waren gesetzwidrig – „Distance Learning“ war gerechtfertigt

Einige am 19.03.2021 zugestellte Entscheidungen des VfGH betreffen Maßnahmen gegen COVID-19, die im Vorjahr gegolten haben.  In seinen Entscheidungen drückt der VfGH aus, welche verfassungsrechtlichen Schranken die zuständigen Behörden bei Maßnahmen gegen COVID-19 zu beachten hatten und haben. 

Betretungsverbot für Sport- und Freizeitbetriebe 2020: Regelung war gesetzwidrig, da nicht ausreichend begründet

Eine im Frühjahr 2020 geltende COVID-19-Maßnahmen­verordnung (BGBl. II Nr. 96/2020) bestimmte, dass das Betreten von Sport- und Freizeitbetrieben untersagt ist. Der Inhaber eines Fischteiches erhielt auf Grund dieses Verbots von der Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld eine Strafe, weil er nicht dafür gesorgt hatte, dass sein Gelände nicht von fremden Personen betreten wird. Der Inhaber beschwerte sich beim LVwG Steiermark. Dieses wiederum stellte beim VfGH den Antrag auf Feststellung, dass dieses Betretungsverbot gesetzwidrig war.

Eine Verordnung darf nur auf Grund eines Gesetzes erlassen werden. Lässt das Gesetz der verordnungserlassenden Behörde einen gewissen Spielraum, muss diese genau darlegen, auf Grund welcher tatsächlichen Umstände sie die Maßnahmen in der Verordnung erlassen hat. Das LVwG Steiermark hatte daher das Bedenken, dass das angefochtene Betretungsverbot vom Gesetz nicht gedeckt sei; darüber hinaus sei diese Regelung nicht hinreichend genau, sodass ein Verstoß gegen das Legalitätsprinzip vorliege.

Der VfGH hat diesem Antrag stattgegeben und entschieden, dass die angefochtene Regelung gesetzwidrig war (VfGH-Erkenntnis V 530/2020 vom 9. März 2021). Die vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz vorgelegten Verordnungsakten lassen nämlich nicht erkennen, welche Umstände im Hinblick auf welche möglichen Entwicklungen von COVID-19 dafür ausschlaggebend waren, das Betreten von Freizeit- und Sportbetrieben zu untersagen. Eine entsprechende Dokumentation ist jedoch Voraussetzung dafür, dass der VfGH beurteilen kann, ob die Verordnung der gesetzlichen Grundlage im COVID-19-Maßnahmengesetz entspricht. Der VfGH folgt damit den Leitentscheidungen vom Juli 2020 (vgl. VfGH 14.7.2020, V 411/2020).

Pflicht zur Auskunft an Gesundheitsbehörde bei COVID-19-Verdachtsfällen war gesetzwidrig, da nicht ausreichend begründet

Auf Grund einer Verordnung des Magistrates der Stadt Wien vom September 2020 waren Betriebsstätten wie z.B. Gasthäuser verpflichtet, der Bezirks­verwaltungs­behörde bei Verdachtsfällen von COVID-19 bestimmte personenbezogene Daten (etwa von Kunden) zu übermitteln. Die Verordnung war bis 31.12.2020 in Kraft.

Der Antragsteller, Inhaber eines Restaurants in der Wiener Innenstadt, hielt diese Verordnung aus mehreren Gründen für gesetzwidrig: Eine solche Auskunftspflicht habe keine gesetzliche Grundlage, zudem verstoße sie gegen das Grundrecht auf Datenschutz, das Recht auf Freiheit der Erwerbsausübung und den Gleichheitsgrundsatz.

Der VfGH gab dem Antrag aus folgendem Grund statt und sah in der vorgeschriebenen Datenerhebung und ‑übermittlung einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf Datenschutz (VfGH-Erkenntnis V 573/2020 vom 10. März 2021). Bei Maßnahmen, die zu einem solchen Grundrechtseingriff führen, ist es erforderlich, dass die Behörde aktenmäßig nachvollziehbar macht, auf Grund welcher tatsächlichen Umstände sie die betreffende Maßnahme für erforderlich und insgesamt angemessen hält. Da diese Entscheidungs­grundlagen nicht erkennbar waren, verstieß die angefochtene Regelung gegen das Epidemiegesetz 1950, diese Regelung war daher gesetzwidrig.

Ortsungebundener Unterricht („Distance learning“) vom 17. November bis 6. Dezember 2020 war gesetzeskonform

Mehrere Schülerinnen und Schüler haben beantragt, eine Verordnung zu prüfen, wonach der Unterricht an Schulen vom 17. November bis 6. Dezember 2020 in ortsungebundener Form organisiert war, also als „Distance learning“. Die entsprechenden Regelungen der COVID-19-Schulverordnung des Bundesministers für Bildung, Wissenschaft und Forschung hätten sowohl gegen den Gleichheitsgrundsatz als auch gegen das Grundrecht auf Bildung verstoßen.

Der VfGH wies diese Anträge als unbegründet ab (VfGH-Erkenntnis V 574/2020 ua vom 10. März 2021). Eine Organisation des Unterrichts in ortsungebundener Form führt zu großen Belastungen für die Schülerinnen und Schüler, die Erziehungsberechtigten und das Lehrpersonal; insbesondere kann diese Form des Unterrichts den verfassungsrechtlichen Bildungsauftrag der Schule auf Dauer nicht erfüllen.

Der VfGH wiederholte, dass den Anforderungen der aktenmäßigen Dokumentation im Verordnungserlassungsverfahren (siehe hiezu insbesondere VfGH 14.7.2020, V 363/2020; 14.7.2020, V 411/2020) nicht durch die bloße Sammlung und Übermittlung von jeglichen zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Daten und Studien zu den Auswirkungen und zur Verbreitung von COVID-19 entsprochen wird. Vielmehr müssen jene Entscheidungsgrundlagen nachvollziehbar dokumentiert werden, die für die Willensbildung des Verordnungsgebers zum Zeitpunkt der Erlassung tatsächlich ausschlaggebend waren.

Angesichts der „gerade noch hinreichend“ wissenschaftlich belegten Unsicherheit über die Verbreitung von COVID-19, der epidemiologisch nachgewiesenen Lage zum Entscheidungszeitpunkt sowie insbesondere der Möglichkeit der pädagogischen Betreuung am Schulstandort war die Anordnung von ortsungebundenem Unterricht für den Zeitraum vom 17. November bis 6. Dezember 2020 – und nur für diesen Zeitraum hatte der VfGH die Maßnahme zu beurteilen – aber sachlich gerechtfertigt und verhältnismäßig.

Die angefochtenen Regelungen der COVID-19-Schulverordnung verstießen auch nicht gegen das Grundrecht auf Bildung nach Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK. Dieses Grundrecht gewährt kein (ausnahmsloses) Recht auf Präsenzunterricht.

Gegenläufige Entscheidungen der Verwaltungsgerichte zu Schulschließungen in Deutschland

Schulschließungen sind auch in Deutschland Gegenstand von Gerichtsentscheidungen, wobei die rechtliche Bewertung zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen führt. So trafen letzte Woche zwei Verwaltungsgerichte in Deutschland gegenläufige Entscheidungen zum Anspruch auf Präsenzunterricht.

Das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen hat einen Eilantrag abgelehnt, mit dem zwei Gymnasiasten die sofortige Rückkehr zum Präsenzunterricht an den weiterfüh­renden Schulen erreichen wollten. Das OVG vertrat die Auffassung, es sei nicht zu beanstanden, dass der Verordnungsgeber zunächst für einen eng umgrenzten Zeit­raum an dem Verbot des Präsenzunterrichts für die weiterführenden Schulen mit Ausnahme der Abschlussklassen als Schutzmaßnahme festhalte, um eine schritt­weise Rückkehr zum Präsenzunterricht für alle Schüler zu ermöglichen. Dieses Vor­gehen entspreche auch der Einschätzung des Robert Koch-Instituts, das aus einer aktuellen Auswertung der vorhandenen Daten- und Studienlage die Empfehlung ab­leite, die Wiederöffnung von Schulen im Kontext der Inzidenz in der Gesamtbevölke­rung gestuft und beginnend bei den unteren Klassenstufen vorzunehmen, weil dort die geringsten Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen zu erwarten seien.

Zu einem ganz anderen Schluss kam dagegen das Verwaltungsgericht Berlin. Auch hier hatten mehrere Schülerinnen und Schüler Eilanträge eingereicht, die sich gegen den reinen Distanzunterricht in ihren Jahrgangsstufen richteten. Jugendlichen der 7. und 9. Schulstufe wollten damit den Weg zurück in den Präsenzunterricht erstreiten – und waren zumindest teilweise erfolgreich.

Einen Anspruch auf hundertprozentigen Präsenzunterricht gebe es derzeit für sie zwar ebenso wenig wie das Recht auf Schule ohne Mund-Nasen-Schutz. Aber der vollständige Ausschluss einzelner Klassenstufen vom Präsenzunterricht sei »gleichheits- und deshalb rechtswidrig« stellte das Gericht fest.

Hier geht’s zur Pressemitteilung des VfGH …

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