Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bestätigt mit ihrer Entscheidung vom 01.12.2020 das Urteil der Vorinstanz vom 12. März 2019 (Az. 26374/118) zur Besetzung eines isländischen Berufungsgerichts, welche von der Isländischen Regierung bekämpft worden war. Damit wurde endgültig klargestellt, dass Verfahrensfehler bei der Ernennung von Richtern das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzen.
Zum Hintergrund
Der Antragssteller Gudmundur Andri Astradsson war im Jahr 2017 wegen Fahrens ohne gültigen Führerschein und unter Drogeneinfluss verurteilt worden. Er brachte gegen die Entscheidung beim neuen Berufungsgericht (gegründet im Januar 2018) Berufung ein. Richterin Arnfridur Einarsdottir war eine der Richterinnen, der der Fall Gudmundur zugeordnet waren. Mit dem Argument, dass es Unregelmäßigkeiten im Verfahren für ihre Ernennung gegeben habe, beantragte der Antragsteller, dass ihr der Fall entzogen werde. Sein Antrag wurde abgelehnt.
Im April 2018 legte er Berufung beim Obersten Gerichtshof ein, doch das Gericht wies seine Berufung einen Monat später ab und stellte fest, dass es trotz der Mängel im Verfahren keinen ausreichenden Grund für Zweifel gab, dass Gudmundur ein faires Verfahren vor unabhängigen und unparteiischen Richtern hatte. Am 31. Mai legte er Berufung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein.
In seinem Kammerurteil vom 12. März 2019 stellte der EGMR (mit fünf gegen zwei Stimmen) fest, dass gegen Art. 6 Abs. 1 (Recht auf ein gesetzlich festgelegtes Gericht) der EGMK verstoßen worden sei. Die Kammer stellte fest, dass das Verfahren, mit dem Arnfridur Einarsdottir zur Richterin des isländischen Berufungsgerichts ernannt worden war, einen eklatanten Verstoß gegen die geltenden innerstaatlichen Vorschriften darstellte: „Es wurde das Vertrauens verletzt, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft in der Öffentlichkeit schaffen muss, und gegen den Kern des Grundsatzes verstoßen hatte, dass ein Gericht gesetzmäßig besetzt ist.“
Am 9. September 2019 nahm das Gremium der Großen Kammer den Antrag der Regierung an, den Fall an die Große Kammer zu verweisen. Die Anhörung erfolgte am 01.12.2020.
Zum Urteil der Großen Kammer
Im Urteil der Großen Kammer (Antrag Nr. 26374/18) hat der EGMR am 01.12.2020 einstimmig festgestellt, dass es ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 (Recht auf ein vom Gesetz festgelegtes Gericht) der EGMK vorliegt.
In den letzten Jahrzehnten hatte der Rechtsrahmen in Island, der die gerichtlichen Ernennungen regelt, einige wichtige Änderungen zur Begrenzung des Ermessens der Minister bei den Ernennungen und damit zur Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz vorgenommen. Im Zusammenhang mit der Ernennung von Richtern an das neu geschaffene Berufungsgericht, bei dem das Parlament mit der Genehmigung aller vom Justizminister vorgeschlagenen Kandidaten beauftragt worden war, wurde die Kontrolle der Ministergewalt weiter verschärft, um die Legitimität dieses neuen Gerichts zu stärken.
Angesichts der potenziellen Auswirkungen der Feststellung eines Verstoßes und der wichtigen Interessen, die auf dem Spiel stehen, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass das Recht auf ein „durch Gesetz errichtetes Gericht“ nicht zu allgemein so ausgelegt werden sollte, dass jede Unregelmäßigkeit in einem gerichtlichen Ernennungsverfahren Gefahr laufen würde, dieses Recht zu gefährden.
So formulierte der EGMR einen dreistufigen Test, um festzustellen, ob Unregelmäßigkeiten in einem gerichtlichen Benennungsverfahren so schwerwiegend waren, dass ein Verstoß gegen das Recht auf ein auf dem Gesetz beruhendes Gericht zur Folge hatte.
Wie der isländische Oberste Gerichtshof jedoch festgestellt hat, wurde dieser Rechtsrahmen, insbesondere durch die Justizministerin, verletzt, als vier der neuen RichterInnen des Berufungsgerichts ernannt worden waren. Während die Ministerin gesetzlich ermächtigt worden war, unter bestimmten Voraussetzungen vom Vorschlag des Auswahlausschusses abzuweichen, hatte sie eine grundlegende Verfahrensregel missachtet, die sie verpflichtete, ihre Entscheidung auf eine ausreichende Erhebung und Beurteilung zu stützen. Diese Regel war ein wichtiger Schutz, um die Ministerin daran zu hindern, aus politischen oder anderen ungerechtfertigten Motiven zu handeln, die die Unabhängigkeit und Legitimität des Berufungsgerichts untergraben würden. Dieser Verstoß war gleichbedeutend mit der Wiederherstellung der Ermessensbefugnisse, die die Ministerin zuvor im Rahmen von gerichtlichen Ernennungen innehatte, und damit die wichtigen Errungenschaften und Garantien der Gesetzesreformen neutralisiert worden. Weitere rechtliche Garantien zur Behebung der von der Ministerin begangenen Verletzungen, wie das parlamentarische Verfahren und der endgültige Schutz der gerichtlichen Kontrolle vor inländischen Gerichten, hatten sich jedoch als unwirksam erwiesen, und der von der Ministerin genutzte Ermessensspielraum, von der Bewertung des Bewertungsausschusses abzuweichen, blieb unbeschränkt.
Dreistufiges Prüfungsverfahren
In Anwendung seiner dreistufigen Prüfung stellte das Gericht fest, dass der Klägerin wegen der Teilnahme einer Richterin an dem gegenständlichen Ausgangsverfahren, deren Ernennung durch schwerwiegende Unregelmäßigkeiten untergraben worden sei, die das Wesen dieses Rechts beeinträchtigt hätten, das Recht auf ein dem Gesetz beruhendes Gericht verwehrt worden.
- Schritt: Ob es zu einem offensichtlichen Verstoß gegen innerstaatliches Recht gekommen ist.
Die liegt nach der Großen Kammer vor, da die Justizministerin keine unabhängige Bewertung des Sachverhaltes vornahm und keine hinreichenden Gründe für die Abweichung vom Vorschlag des Bewertungsausschusses vorgelegt. Schließlich hat das isländische Parlament das besondere Abstimmungsverfahren mit gesonderter Abstimmung über den einzelnen Kandidaten nicht durchgeführt.
Die erste Bedingung war erfüllt.
- Schritt: Ob Verstöße gegen innerstaatliches Recht eine Grundregel des Gerichts betrafen Verfahren zur Ernennung
Der Bewertungsausschuss wurde durch die Gesetzesreformen mit der Befugnis ausgestattet, verbindliche Empfehlungen für die Ernennung von Richtern auf allen drei Ebenen auszusprechen. Was die von der Ministerin begangenen Verstöße angeht, so waren diese nicht bloß technische oder verfahrenstechnische Mängel, sondern schwerwiegende Unregelmäßigkeiten, die das Recht auf ein dem Gesetz beruhendes Gericht zuwiderlaufen.
- Schritt: Ob die nationalen Gerichte die Frage eines behaupteten Verstoßes gegen das Recht auf ein auf Gesetz beruhendes Gericht tatsächlich geprüft (und gegebenenfalls Abhilfe geschaffen) haben
Zusammenfassend kam die Große Kammer einstimmig zum Schluss, dass dem Kläger wegen der Teilnahme einer Richterin an seinem Verfahren, deren Ernennung durch schwere Unregelmäßigkeiten untergraben worden war, das Wesen des fraglichen Rechts beeinträchtigt hat, sein Recht auf ein dem Gesetz beruhendes Gericht verwehrt worden war. Somit hat es einen Verstoß gegen Art 6 Abs 1 (Recht auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht) der EGMK gegeben.
Nach Auffassung des EGMR stellte die Auswahl der neuen Kandidaten ohne erneute unabhängige Prüfung ihrer Qualifikation jedoch einen eklatanten Verstoß gegen geltendes nationales Recht dar. Zudem wurde das Prinzip der Gewaltenteilung durch diese Entscheidung der Exekutive nicht hinreichend respektiert. Damit liege ein Verstoß gegen das fundamentale Prinzip nach Art. 6 Abs. 1 EMRK, dass Gerichte durch Gesetze eingerichtet werden müssen, vor, womit das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren verletzt worden sei. Die isländische Justizministerin hat über das Urteil ihren Rücktritt erklärt.
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