Verwaltungsrichter in Europa (1): Das französische System der Richterauswahl und -ausbildung

In Frankreich gibt es 42 Verwaltungsgerichte, acht Berufungsgerichte in Verwaltungssachen sowie ein Asylgericht mit insgesamt rund 1400 Richtern, von denen aber nur ca. 1150 aktiv sind (zum Vergleich: die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit verfügt über etwas mehr als 8300 Richter). Die übrigen sind befristet in der Verwaltung (d.h. in der exekutiven Staatsgewalt!) tätig.

Sylvain Merenne. Foto: Mag. Andreas Stanek

(Vortrag von Sylvain Merenne, Richter am Oberverwaltungsgericht Marseille, am 25. Maiforum, Bundesfinanzgericht Wien)

Als Höchstgericht fungiert der Staatsrat mit knapp 350 Mitgliedern, davon rund 230 aktiven, von denen aber nur etwa 125 eine richterliche Funktion ausüben. Der Rest berät die Regierung bzw. die Spitzen der Exekutive.

Der unscharfen Trennung zwischen Verwaltungsexekutive und der sie kontrollieren-den Gerichtsbarkeit steht eine von dieser durch Berufskleidung, Eid und Absolvierung einer eigenen nationalen Richterschule deutlich abgesetzte Straf- und Zivilgerichts-barkeit gegenüber. Innerhalb der Verwaltungsgerichtsbarkeit besteht eine hierarchische Kluft zwischen dem Staatsrat und den Gerichten der beiden unteren Instanzen.

Während sich diese zu durchschnittlich einem Viertel aus ehemaligen Studenten der École Nationale d’Administration (ENA), den sog. Enarchen, rekrutieren (mit sinkender Tendenz), beträgt dieser Anteil im Staatsrat über 60%; dazu kommt, dass die „énarques“ mit den besten Examensnoten unmittelbar Aufnahme im Staatsrat finden. Auch die nicht so hervorragend Benoteten haben noch Aussicht auf gute Posten in der Verwaltung oder der staatsnahen Wirtschaft. Erst die weniger guten Absolventen bewerben sich an die tribunaux administratifs, was die bestehende Hierarchie natürlich weiter festigt.

Neben dem Karriereweg über die ENA gibt es noch zwei weitere Hauptzugangswege, nämlich den direkten Zugang über einen Bewerb (concours), in welchem die Auswahl unter den Bewerbern anhand verschiedener schriftlicher Arbeiten und Hearings getroffen wird (knapp die Hälfte der Richterinnen und Richter); ferner der „externe Weg“, d.h. die Ernennung von Beamten der mittleren bis höheren Ebene, die wenigstens acht Jahre Berufserfahrung aufweisen (an die 15% des richterlichen Personals). Nicht weniger bedeutsam als dieser tour extérieur, obwohl aus der Sicht anderer europäischer Länder sehr ungewöhnlich, ist das détachement, also die (befristete, aber verlängerbare) Dienstzuteilung hoher Beamter, welche häufig in eine Dauerstellung mündet.

Nach der Ernennung folgt eine sechsmonatige Ausbildung in einem eigenen Ausbildungszentrum nahe Paris, welche Unterricht in Prozess- Organisations- und Verwaltungsrecht ebenso umfasst wie  eine achtwöchige Verwaltungs- und Gerichtspraxis sowie praktisches Training anhand fiktiver Fälle. Danach sind die ersten sechs Richtermonate bei halber Belastung zu absolvieren.

Die Weiterbildung ist nur in geringem Ausmaß vorgeschrieben; es können auch einzelne Seminare an der Richterschule besucht werden. Dafür ist – unter dem Titel „Mobilität“ – eine auswärtige Praxis (in der Verwaltung!) von mindestens zwei Jahren obligatorisch, und ist Voraussetzung für den Aufstieg zum Vorsitzenden (nach zusätzlich acht Jahren Berufserfahrung als Richter und entsprechend einem Ranking durch ein beratendes Gremium, den Hohen Rat für Verwaltungsgerichte, CSTACAA) oder in höhere Funktionen. Für höchstens vier Jahre besteht dann ein Rückkehrrecht zum ursprünglichen Verwaltungsgericht.

Gerichtspräsidenten werden vom Premierminister aufgrund eines bindenden Vorschlags des obgenannten Hohen Rates (CSTACAA)  und nach Vorselektion durch den Staatsrat ernannt. Präsidenten von Berufungsgerichten werden mit Mitgliedern des Staatsrates besetzt oder mit Gerichtspräsidenten der 1.Instanz, welche dadurch automatisch zu Mitgliedern des Staatsrates avancieren. Das Beratungsgremium CSTACAA besteht aus dem Vizepräsidenten und dem Generalsekretär des Staatsrates, zwei hohen Justizfunktionären, fünf gewählten Verwaltungsrichtern und einem gewählten Gerichtspräsidenten sowie drei vom Staatspräsidenten und den Spitzen der Legislative ernannten Persönlichkeiten.

Der Kritik an der geringen sozialen Durchlässigkeit des Systems und dem elitären Charakter durch die besondere Rolle der ENA bei der Besetzung von hohen Verwaltungs- wie von Verwaltungsrichterposten hat zu verschiedenen Reform-vorschlägen, insbesondere auch in Richtung verstärkter Transparenz, geführt. Vor zwei Wochen hat der französische Staatspräsident – unter dem Eindruck der Gelbwestenproteste – die Abschaffung der ENA  angekündigt.

Hier geht’s zur Präsentation (nur in Englisch verfügbar)

 

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