Nicht nur die beim Europarat angesiedelte „Europäische Kommission für die Effizienz der Justiz“ hat die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Justiz auf die Tagesordnung gesetzt auch das justizielle Trainingsnetzwerk der EU (EJTN) beschäftigt dieses Thema immer häufiger. Auf einer Veranstaltung in Zypern wurden unter dem Titel Conference on „Training to Leadership“ die Herausforderungen für Justizsysteme und ihre Entscheidungsträger sehr detailliert erörtert.
Technologie wirkt wie Gesetze
Prof. Antonio Cordella (London School of Economics and Political Science – LSE) schilderte die Ergebnisse seiner Untersuchungen über den Einfluss der Digitalisierung auf die Justizsysteme. Er stellte fest, Ziel der eingesetzten Technologie sei es immer, die Komplexität von Arbeitsabläufen zu vereinfachen. Entgegen der Auffassung vieler Richter sei Technologie aber nie neutral. Indem sie Ergebnisse strukturiere, beeinflusse sie Verfahren in derselben Weise wie Gesetze. Der Aspekt der Unabhängigkeit der Rechtsprechung oder Probleme für den Zugang zum Recht würden dabei regelmäßig vernachlässigt.
Beim Einsatz digitaler Case-Management Systeme sei durchgängig zu beobachten, dass die Zahl unterschiedlicher richterlicher Entscheidung reduziert werde. Es seien Fälle bekannt, in denen eine gesetzlich zulässige Verfahrensführung technisch nicht mehr möglich werde, weil die eingesetzte Technologie diese nicht vorsehe. Ebenso gäbe es Fälle, in denen vom Gesetz her mögliche Entscheidungen technisch nicht mehr möglich waren.
Es sei zu beobachten, dass die Justizsysteme oft leichtfertig Wissen und Erfahrungen über gerichtliche Arbeitsabläufe an private Dienstleister outsourcen, mit der Folge, dass die Gerichte selbst nicht mehr über das notwendige Knowhow zur Funktionsweise der eingesetzten technischen Systeme verfügten.
Entscheidung auf Grundlage intransparenter Algorithmen
Zum Teil bestehe daran auch gar kein Interesse mehr. Im Fall „Loomis v. Wisconsin“ war ein Straftäter in den USA auf Grundlage der Vorhersagesoftware „COMPAS“ zu sechs Jahren Haft verurteilt worden, weil die Software die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls so hoch einschätzte. Die Klage, in der eine Offenlegung des Algorithmus der Software gefordert wurde, wurde vom „ Supreme Court“ im Juni 2017 abgelehnt.
Damit läge ein Paradigmenwechsel des Rechtsstaats vor: Nicht auf der Schuld gründe die Vorwerfbarkeit des Verhaltens, sondern auf einem algorithmisch ermittelten Risikoscore. Solange der Algorithmus nicht transparent gemacht werde, wisse der Verurteilte auch nicht, wofür er verurteilt wurde.
„Technische“ Staatsgründung
Der erste Staat der Welt, der laut Prof. Cordella auf Basis technischer Systeme entstanden ist, sei der Kosovo. Dort seien nach der Erklärung der Unabhängigkeit nicht eine Verfassung und – darauf fußend – Gesetze erlassen worden, sondern es seien von den USA und der EU als erstes die digitalen Strukturen für Verwaltung und Gerichtsbarkeit für den neuen Staat geschaffen worden. Dies habe zur Folge gehabt, dass Verfassung und Gesetze die damit vorgegeben technischen Abläufe nachträglich abbilden mussten, da eine Änderung der Abläufe nicht mehr möglich war, da dafür auch keine finanziellen Mittel zur Verfügung standen.
Prof. Cordella erinnerte daran, dass nicht nur die Effizienz, sondern auch die Legalität der Entscheidungen, ihre Legitimität und der Zugang zum Recht fundamentale Werte der Rechtsprechung sind.