EuGH-Präsident Koen Lenaerts: Mehr Solidarität in der EU, keine Kürzung von Sozialleistungen für Asylberechtigte

"Man kann nicht sagen, die Flüchtlinge seien das Problem eines Staates", sagt der Präsident des EU-Gerichtshofs, Koen Lenaerts.
„Man kann nicht sagen, die Flüchtlinge seien das Problem eines Staates“, sagt der Präsident des EU-Gerichtshofs, Koen Lenaerts. / Bild: Die Presse

„Bei Asyl gibt es einfach keine Obergrenzen“

EuGH-Präsident Koen Lenaerts fordert im Interview mit der Tageszeitung Die Presse mehr Solidarität in der EU. Sozialleistungen für Asylberechtigte dürfe man nicht kürzen.

 

Die Presse: Die Reisefreiheit innerhalb der Union und insbesondere im Schengen-Raum gilt als eine große Errungenschaft Europas. Sehen Sie diese gefährdet?

Koen Lenaerts: Ich hoffe, dass sie nicht gefährdet ist. Sie ist die größte Errungenschaft für den Bürger, um den Mehrwert der EU zu entdecken. Es ist ganz wichtig, dass wir Binnengrenzen innerhalb des großen Raums der EU ganz locker und einfach überqueren können, ohne dabei behindert zu werden.

Der Flüchtlingsansturm an den Außengrenzen stellt Europa vor ganz neue Herausforderungen. Reichen die rechtlichen Instrumentarien der EU aus, um damit fertigzuwerden?

Wenn man keine Binnengrenzen mehr hat, werden die Außengrenzen zu Außengrenzen für alle. Europa muss deshalb kräftiger ausgerüstet werden, um die Außengrenzen zu überwachen, um Flüchtlinge zu registrieren, um Hotspots einzurichten, und um den Menschen, die einwandern wollen, schon dort zu begegnen.

Es bedarf einer viel größeren Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Man kann nicht sagen, die Flüchtlinge sind das Problem eines Staates, der das Unglück hat, an der Außengrenze mit einem Drittstaat zu liegen, von wo viele in die EU einwandern wollen. Das Verhalten dieses Staats hat ja Auswirkungen auf alle Mitgliedstaaten.

Das Dublin-System ist ja offensichtlich gescheitert.

Viele Politiker wie Angela Merkel und François Hollande haben dazu aufgerufen, das Dublin-System unter den erwähnten Aspekten zu reformieren: Es sollte eine viel größere Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten ermöglichen. Aber als Gerichtshof sind wir daran nicht beteiligt. Allerdings haben wir bereits viele Urteile gefällt, die das Dublin-System den neuen Notwendigkeiten anpassen, etwa schon 2011: Wenn ein Mitgliedstaat an der Außengrenze – es ging um Griechenland – von Anträgen überschwemmt ist, können andere EU-Staaten weitergezogene Flüchtlinge nicht einfach dorthin zurückschicken, wenn sie dort nicht mit einem menschenwürdigen Leben rechnen können.

Auch Österreich fühlt sich wegen der großen Zahl an Flüchtlingen überlastet und will eine Obergrenze von heuer 37.500 einführen. Ist das zulässig?

Die Genfer Flüchtlingskonvention nennt Bedingungen, unter denen Flüchtlinge anzuerkennen sind. In diesem System – das ist kein Unionsrecht, das ist Völkerrecht – gibt es einfach keine Obergrenzen. Damit ist aber nicht gesagt, welcher Staat die Anerkennung und Integration dieser Flüchtlinge übernehmen muss. Da kommt das Unionsrecht herein. Die Verteilung von Asylbewerbern auf die Mitgliedstaaten ist Sache des Unionsrechts. Die 28 Mitgliedstaaten sind dabei, im Gesetzgebungsprozess der Union miteinander zu vereinbaren, wie sie die Lasten verteilen. Aber die absolute Zahl für die Union kann nie im Vorhinein festgelegt werden.

Inwiefern könnte Österreich eine Verurteilung vor dem EuGH in dieser Causa drohen?

Es ist eigentlich nicht so, dass Mitgliedstaaten unilateral solche Grenzen machen. Das ist eher Gegenstand des politischen Prozesses innerhalb der Union. Dazu haben wir den Innenministerrat. Im September hat der Rat über die Verteilung von Flüchtlingen entschieden. Das haben die Slowakei und Ungarn mit einer Nichtigkeitsklage beim EuGH angefochten. Aber das ist ein anhängiges Verfahren, dazu kann ich natürlich nichts sagen.

Darf man Asylberechtigten weniger Sozialleistungen als eigenen Bürgern zukommen lassen, etwa bei der Mindestsicherung?

Die Genfer Konvention sieht für die anerkannten Flüchtlinge die Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des betroffenen Staates vor. Wer anerkannt ist, hat normalerweise denselben Zugriff auf die Sozialleistungen wie Bürger des Aufnahmestaates. Das ist Völkerrecht und hat mit Unionsrecht nichts zu tun.

Darf man bei subsidiär Schutzberechtigten, die keinen Asylgrund haben, aber wegen der Verhältnisse in ihrer Heimat aus humanitären Gründen trotzdem nicht zurückgeschickt werden können, Sozialleistungen kürzen?

Es gibt eine eigene EU-Gesetzgebung für subsidiär Schutzberechtigte, die das regelt. Es hängt von der Leistung ab: Bei Basisleistungen wie für das Wohnen gibt es einen strengeren Gleichbehandlungssatz als bei anderen Leistungen.

Das ganze Interview in der Presse lesen…

Zu diesem Thema den Beitrag „Asyl und Umverteilung voneinander trennen“ von Prof. Peter Hilpold in der Presse lesen…

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