Das erste Jahr (1) – Verfahrensrecht

Der Jahreswechsel bietet natürlich auch uns eine gute Gelegenheit, Bilanz zu ziehen über das, was passiert ist, im ersten Jahr der „Verwaltungsgerichtbarkeit“.

Das Hauptaugenmerk unseres Jahresrückblicks gilt dabei dem Verfahrensrecht (1), dem Organisationsrecht (2) und dem Dienstrecht (3) sowie der Entwicklung der richterlichen Standesvertretung in Österreich und auf europäischer Ebene (4).


1. Verfahrensrecht

a) Entscheidungsumfang der Gerichte

Sowohl der Verwaltungsgerichtshof als auch der    Verfassungsgerichtshof betonen in ihren Entscheidungen die grundsätzliche Verpflichtung der Verwaltungsgerichte zur reformatorischen Entscheidung. Die Verwaltungsgerichte haben somit nicht nur über die gegen den verwaltungsbehördlichen Bescheid eingebrachte Beschwerde zu entscheiden, sondern auch die Angelegenheit zu erledigen, die von der Verwaltungsbehörde zu entscheiden war.

Im Vordergrund der Überlegungen der Höchstgerichte steht damit die Raschheit und Effektivität des Rechtsschutzes. Die den Gerichten übertragene Entscheidungspflicht führt aber dazu, dass – immer dann, wenn die Behörde ihre Verfahren nachlässig führen oder ganz auf eine Entscheidung verzichtet – die Verwaltungsgerichte nicht nur behördliches Handelns kontrollieren, sondern anstelle der Verwaltungsbehörden die Verwaltung “führen“. Hier zeichnet sich ein grundsätzlicher Konflikt mit dem Verfassungsgrundsatz der Trennung von Verwaltung und Gerichtsbarkeit ab.

b) Verhandlungspflicht

In seiner Entscheidung zur den Zlen. Ra 2014/20/0017 u.a. vom 24.5.2014 legt der Verwaltungsgerichtshof die Bestimmung des § 24 VwGVG dahingehend aus, dass keine Änderung in Bezug auf die bisher zu § 67d AVG ergangene Rechtsprechung zur Verhandlungspflicht der UVS eingetreten ist.

Es ist daher von eine generellen Verhandlungspflicht der Verwaltungsgerichte auszugehen, ein Absehen von der Verhandlung kann nur erfolgen, wenn dies „außergewöhnliche Umstände“ (im Sinne des At 6. EMRK) rechtfertigen. Die Bestimmung des § 24 Abs. 2 VwGVG ist somit eng auszulegen. Gleiches gilt für die in § 44 Abs.2 bis 5 VwGVG geregelten zulässigen Ausnahmen von der Verhandlungspflicht in Verwaltungsstrafverfahren. (VwGH, Ra 2014/02/11 vom 31.7.2014)

c) Amtssachverständige

Der Verfassungsgerichtshof hat in seiner Entscheidung zur GZ. E707/2014 vom 07.10.2014 klargestellt, dass er die von verschiedenen Seiten – hinsichtlich der zu großen Nähe der Amtssachverständigen zur Behördenpartei – vorgebrachten Bedenken nicht teilt. Damit ist auch im neuen Rechtsschutzsystem die Heranziehung von Amtssachverständigen in Verfahren vor Verwaltungsgerichten grundsätzlich zulässig (§ 17 VwGVG iVm § 52 AVG).

Der VfGH hat aber insoferne auf Einwände reagiert, als er die Heranziehung von Amtssachverständigen nur unter bestimmten Voraussetzungen als zulässig erachtet. So muss die Auswahl der Amtssachverständigen ausschließlich den Gerichten obliegen, da die Gerichte nur so die Qualifikation des Amtssachverständigen und das Vorliegen etwaiger Befangenheitsgründe bzw. Gründe für den Anschein der Befangenheit prüfen können. Nach Auffassung des VfGh besteht auch eine Verpflichtung der Gerichte, die Eignung und Unbefangenheit des Amtssachverständigen „ nach den Umständen des Einzelfalls mit der gebotenen Sorgfalt zu untersuchen und zu beurteilen“.

d) Einhaltung der Entscheidungsfrist durch mündliche Verkündung

Von großer praktischer Bedeutung ist die Frage, ob mit der mündliche Verkündung der Entscheidung die Einhaltung der Entscheidungsfristen gewahrt ist. Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes ist nach der neuen Rechtslage allerdings das Zusammenspiel von mündlicher Verkündung eines Erkenntnisses und dessen schriftlicher Ausfertigung unklar. Da die Frage, wann eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtes in rechtliche Existenz tritt, also als „erlassen“ gilt, für den Rechtsschutz von grundlegender Bedeutung ist, hat der Verfassungsgerichtshof die Prüfung des § 29 VwGVG und des § 82 Abs.1 zweiter Satz VfGG
beschlossen.

Ebenfalls noch offen ist die Frage, ob der Eintritt der formellen Rechtskraft der Gerichtsentscheidungen davon abhängt, ob eine Revision zugelassen wird oder nicht.

e) Aufschiebende Wirkung – „Lex Westring“

Im neuen Verfahrensrecht (§ 13 VwGVG) ist ausdrücklich die aufschiebende Wirkung von Beschwerden vorgesehen. Diese kann nur dann ausgeschlossen werden, „wenn nach Abwägung der berührten öffentlichen Interessen und Interessen anderer Parteien der vorzeitige Vollzug des angefochtenen Bescheides oder die Ausübung der durch den angefochtenen Bescheid eingeräumten Berechtigung wegen Gefahr im Verzug dringend geboten ist.“

Das neue Verfahrensrecht war noch keine drei Monate alt, da einigten sich die Koalitionsparteien bereits auf ein „Lex Westring“ genanntes Gesetz, welches Beschwerden im UVP-Bereich keine aufschiebende Wirkung zuerkennt. Das Land Oberösterreich hat nachgezogen und in der oberösterreichischen Bauordnung, im oberösterreichischen Straßengesetz und im oberösterreichischen Naturschutzgesetz die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde ausgeschlossen. Dabei handelt es sich nach Presseberichten um einen Beitrag „zur Harmonisierung der oberösterreichischen Gesamtrechtslage“.

Da der vorläufige Rechtsschutz im Umweltverfahren einerseits unionsrechtlich vorgegeben ist und anderseits das Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte Bundeskompetenz ist, womit die Erlassung verfahrensrechtlicher Sonderbestimmungen durch Länder sehr eingeschränkt wird, ist das rechtliche Schicksal dieser Bestimmungen äußerst fraglich.

Der positive Bescheid für den „Westring“, die Umfahrungsstraße für Linz, wurde übrigens noch kurz vor Weihnachten zugestellt.

Diese Vorgangsweise dürfte auch andere Materiengesetzgeber dazu ermutigt haben, den Grundsatz der aufschiebende Wirkung der Beschwerde abzuschaffen.

f) Parteistellung der Verwaltungsgerichte vor den Höchstgerichten

Im Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof haben nur die Parteien des vorangegangenen Rechtsstreites Parteistellung, nicht aber jenes Gericht, dessen Entscheidung im Revisionsverfahren bekämpft wird. So hat es der Gesetzgeber auch für das neue Revisionsverfahren bzw. Beschwerdeverfahren gegen Entscheidungen eines Verwaltungsgerichtes vor den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts vorgesehen.

Der Verfassungsgerichtshof hält die nach der neuen Rechtslage fehlende Parteistellung des Verwaltungsgerichtes im Beschwerdeverfahren vor dem VfGH für verfassungsrechtlich bedenklich und hat die amtswegige Prüfung des § 83 Abs. 1 des Verfassungsgerichtshofgesetzes beschlossen.

Der Gerichtshof begründet seine Bedenken damit, dass Prüfungsgegenstand vor dem Verfassungsgerichtshof der angefochtene Akt des Verwaltungsgerichts ist. Es sei in diesem Kontext mit dem Rechtsschutzsystem der Bundesverfassung vermutlich nicht vereinbar, wenn der Gesetzgeber zwar die Parteien des Verfahrens vor der Unterinstanz, nicht aber das belangte Verwaltungsgericht selbst zur Partei des verfassungsgerichtlichen Verfahrens macht.

Die Bedenken gelten nach dem Prüfungsbeschluss ausdrücklich nicht für das Revisionsverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof. Das erscheint insofern unschlüssig, als immer dort, wo die Verwaltungsgerichte anstelle der Behörde entscheiden (siehe oben) oder über Richtlinienbeschwerden (SPG) oder sogenannte „Maßnahmenbeschwerden“ entscheiden, Prüfungsgegenstand der Revision immer der angefochtene Akt des Verwaltungsgerichts ist.

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