Drei Verbände und eine Stiftung, die europäische Richter:innen vertreten, sind der Ansicht, dass die von Polen vorgeschlagenen und vom Rat genehmigten Etappenziele, u. a. solche zur Reform des polnischen Justizsystems, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar seien. Die Kläger beantragten daher, den Beschluss des Rates für nichtig zu erklären. Polen habe den Anforderungen an die Justizreform, den Vorgaben des EuGH als Voraussetzung für Freigabe der Aufbauhilfen, nach Ansicht der vier klagenden Richtervereinigung nicht entsprochen.
Das Europäische Gericht I. Instanz (EuG) entschied jedoch nun überraschend mit Beschluss vom 04.06.2024, dass die klagenden Richtervereinigungen weder im eigenem Namen noch im Namen der Richter:innen, deren Interessen sie vertreten, wegen fehlender Rechtsgrundlage klagsbefugt seien. Auch regelmäßige Gespräche mit den Unionsorganen über die Frage der richterlichen Unabhängigkeit und Rechtsstaatlichkeit oder die Vertretung der Interessen von Richter:innen können keine Zuständigkeit begründen. Es sei vielmehr Aufgabe der Europäischen Kommission, auf die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit durch Polen hinzuwirken.
Zunächst hatte der EuG das Verfahren zu den inhaltlichen Klagsgründen geführt, mit 05.12.2012 ein beschleunigtes Verfahren eingeleitet und schließlich die Rechtssache an die Große Kammer des Gerichts verwiesen. Dass nun mit Beschluss vom 4. Juni 2024 die Rechtssache wegen Fehlens des erforderlichen rechtlichen Interesses/der erforderlichen rechtlichen Stellung für unzulässig erklärt wurde, auch wenn sie von den suspendierten polnischen Richter:innen vertreten wurde, sei enttäuschend, wie die vier Richtervereinigung in ihrer Pressemitteilung erklärten.
Es werde jedoch auch die Aussage des EuG aufgezeigt, das die richterliche Unabhängigkeit und die Rechtsstaatlichkeit als ein ausschließlich europäischen Institutionen, insbesondere der Europäischen Kommission, vorbehaltenen Grundsatz begreift. Ein solches Konzept, das die nationalen Richter:innen und die europäische Zivilgesellschaft ausschließe, sei für die EU als Ganzes nicht ohne Risiken. Es werde die Entscheidung genau geprüft und überlegt, eine Beschwerde einzubringen.
Zum Hintergrund:
Zur Abfederung der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie hat die Europäische Union im Rahmen des NextGenerationEU-Projekts die Aufbau- und Resilienzfazilität eingerichtet. Um die in diesem Zusammenhang bereitgestellten Mittel in Anspruch nehmen zu können, haben die Mitgliedstaaten nationale Pläne für Reformen und Investitionen darzustellen, die von der Europäischen Kommission bewertet und in weiterer Folge vom Rat gebilligt werden müssen.
Mit Beschluss vom 17. Juni 2022 billigte der Rat die Bewertung des von Polen vorgelegten Plans. In dem Beschluss legte er jedoch nur bestimmte Etappenziele und Zielwerte fest, die Polen erreichen muss, damit ihm Mittel gewährt werden, und zwar u. a. solche, die die Reform des polnischen Justizsystems betreffen. Einer der Meilensteine erforderte, dass Polen ein Überprüfungsverfahren gegen Entscheidungen der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts in Bezug auf Richter:innen einführte, die aus unionsrechtswidrigen Gründen suspendiert oder auf andere Weise diszipliniert wurden.
EAJ, Medel, AEAJ und Richter für Richter argumentierten, dass dieser Meilenstein mit dem Recht der Europäischen Union unvereinbar sei, da der EuGH bereits entschieden habe, dass suspendierte Richter sofort in ihren Funktionen wiederhergestellt werden müssten, ohne jede Art von Überprüfung, geschweige denn mit einer Überprüfung ungewissen Ergebnisses. Die klagenden Vereinigungen beantragen daher mit der Klage vom 17.06.2022, den Beschluss des Rates für nichtig zu erklären.
In dem Beschluss führt das EuG aus, dass der Rat bei der Erlassung des angefochtenen Beschlusses zwar an die unionsrechtlichen Vorschriften über die Rechtsstaatlichkeit gebunden gewesen sei. Weder polnischen Richter:innen – ob sie nun von einer Entscheidung der Disziplinarkammer betroffen seien oder nicht – noch Richter:innen der anderen Mitgliedstaaten oder des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) seien von dem Ratsbeschluss unmittelbar betroffen, sodass die Zulässigkeit der Klagen nicht auf die Situation dieser Richter:innen gestützt werden könne.
Das Gericht stellt fest, dass die aufgestellten Etappenziele eine Haushaltskonditionalität darstelle, jedoch die Vorschriften über den Wert der Rechtsstaatlichkeit oder den wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz nicht ersetze. Es betonte, dass auch nach seinem Erlass nach den einschlägigen
unionsrechtlichen Bestimmungen und den Urteilen des EuGH die Situation dieser Richter:innen geregelt und nicht aufgehoben werden.
Der EuG wies ausdrücklich im Zusammenhang mit der Krise der Rechtsstaatlichkeit festgestellten
Vertragsverletzungen Polens darauf hin, dass diese unabhängig von dieser Entscheidung abzustellen seien. Weiters können auch weiterhin die Mitgliedstaaten und die Unionsorgane eine Klage gegen alle Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einbringen, die Rechtswirkungen entfalten sollen, ohne dass sie ein Rechtsschutzinteresse nachweisen müssten. Es obliege vielmehr aber der Europäischen Kommission, tätig zu werden, um darauf hinzuwirken, dass Polen den Wert der Rechtsstaatlichkeit achte.
Hier geht’s zur Pressemitteilung des EuG …
Hier geht’s zum Beschluss des EuG vom 04.06.2024, Rs, T‑530/22 bis T‑533/22 …
Hier geht’s zur Stellungnahme der Richtervereinigungen zum Beschluss (englisch)…