Schaffung einer Ermittlungs- und Beschwerdestelle Misshandlungsvorwürfe

Anmerkungen zum Entwurf zur Änderung des Gesetzes über ein Bundesamt zur Korruptionsprävention und Korruptionsbekämpfung

Seit 100 Jahren gibt es in Österreich eine Beschwerdestelle für Polizeigewalt. Ihr Name: Verfassungsgerichtshof; seit 1975 ist auch der Verwaltungsgerichtshof dafür zuständig. Da diese beiden Höchstgerichte jedoch keine Tatsacheninstanzen waren und sind, mussten sie sich für ihre Ermittlungen anderer Gerichte oder Behörden bedienen. Außerdem mussten die Beschwerden eine bestimmte Form aufweisen und von RechtsanwältInnen eingebracht werden.

Seit 1991 besteht allerdings mit den Unabhängigen Verwaltungssenaten bzw den Verwaltungsgerichten der Länder und des Bundes als Nachfolgeinstitutionen eine Beschwerdestelle, die auch ermittelt: als erste und somit als Tatsacheninstanz erheben diese Gerichte alle erforderlichen Beweise, um das Tatgeschehen zu rekonstruieren, welches sie dann einer Rechtmäßigkeitsprüfung unterziehen. Die Beschwerden können formlos sein (laut dem höchstgerichtlichen Diktum „Dem Verwaltungsverfahren ist jeglicher Formalismus fremd“) und sind mit einem überschaubaren Kostenrisiko verbunden. Fehlen wesentliche Inhalte, so können diese nach Anleitung durch das Gericht („Verbesserungsauftrag“) nachträglich ergänzt werden; nicht anwaltlich vertretene Personen sind ganz generell vom Gericht anzuleiten („Manuduktionspflicht“) . Nach allgemeiner Auffassung hat sich diese sogenannte Maßnahmenbeschwerde deutlich besser bewährt als die Aufarbeitung von Misshandlungsvorwürfen durch die Strafgerichte.

Wenige Staaten weltweit weisen eine derart unbürokratische Möglichkeit auf, sich gegen die Ausübung von Zwangsgewalt und staatliche Übergriffe zu wehren. Und welche Ermittlungs- und Beschwerdestelle könnte unabhängiger sein als ein Gericht? Dennoch erschallt seit geraumer Zeit der Ruf nach einer unabhängigen Behörde, welche aufgrund von Beschwerden gegen die Polizei ermitteln soll, da es bisher keine unabhängig ermittelnde Stelle gebe. Begründet wird das damit, dass ansonsten „die Polizei gegen sich selbst ermitteln müsste“. Muss sie das?

Die Verwaltungsgerichte geben der belangten Behörde den Auftrag, sämtliche Aktenvorgänge zu dem betreffenden Vorfall vorzulegen, und Gelegenheit, sich zu den Vorwürfen zu äußern; zu dieser Äußerung kann der/die BeschwerdeführerIn Stellung nehmen. Aufgrund des beiderseitigen Vorbringens werden alle erforderlichen Beweismittel genutzt, es wird also „ermittelt“. Jedem Richter, jeder Richterin ist klar, dass polizeiliche Meldungen oder polizeiamtsärztliche Gutachten nicht immer unparteiisch und objektiv verfasst werden; ein allfälliger „Bias“ kann durch sorgfältige Zeugenbefragungen und ergänzende Gutachten minimiert werden. Was könnte die neu geschaffene Stelle besser?

Dass die Hemmschwelle, sie zu kontaktieren, geringer wäre als bei einer formlosen Eingabe an ein Gericht, leuchtet nicht ein. Sie kann zwar nach dem nun vorliegenden Gesetzesvorschlag auf direktem Wege nach der Strafprozessordnung vorgehen, wenn ein Anfangsverdacht vorliegt. Das spart ein wenig Zeit, denn die Verwaltungsgerichte erstatten in solchen Fällen erst nach ihrer Entscheidung Anzeige bei der zuständigen Staatsanwaltschaft (wenn es die Polizeibehörde nicht schon vorher getan hat). Weitere Ermittlungsvorteile sind jedoch nicht zu erkennen und werden auch in den Erläuternden Bemerkungen nicht dargestellt. Ich hatte in der mehr als 26 Jahren meines Judiziums bei geschätzt an die tausend Beschwerden einen einzigen Fall, bei dem die Einvernahmen durch das BIA (die Vorläuferbehörde des Bundesamts für Korruptionsbekämpfung) hilfreich war: als mir nämlich alle beteiligten Polizisten die Aussage komplett (nicht nur über ihre eigene Rolle im Tatgeschehen) verweigerten. Denn vor dem BIA hatten sie sich das nicht getraut, und so konnte ich ihre Aussagen verwerten. Aber grundsätzlich dürfen Beschuldigte ihre Aussage natürlich auch vor der neuen Beschwerdestelle verweigern. Eine zu Unrecht erfolgte Aussageverweigerung eines Beamten nützt der Polizei allerdings nicht, weil dann nur die belastende Aussage des oder der Betroffenen vorliegt. Und wenn die belangte Behörde dem Gericht die beteiligten Beamten nicht nennt (oder mangels Aufzeichnungen nicht nennen kann), dann wird die Amtshandlung ohnehin für rechtswidrig erklärt.

Nun könnte man ja meinen, doppelt hält besser, und das judizierende Verwaltungsgericht hätte nun eine eigene Ermittlungsbehörde an der Hand. Dann wäre es aber mindestens erforderlich gewesen, das Verhältnis des Ermittlungsergebnisses der Beschwerdestelle zu einer allfälligen Beschwerde gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG („Maßnahmenbeschwerde“) und zu der folgenden Gerichtsentscheidung zu klären; denn ohne diese hängt das Ermittlungsergebnis des Bundesamtes ja in der Luft. Davon ist aber in dem Entwurf kein Wort zu finden! Wurde das fahrlässig unterlassen oder war es gar Absicht? Wem sollte das nützen?

Die Konsequenz aus dieser Doppelgleisigkeit mag vielleicht eine gewisse Entlastung der Verwaltungsgerichte sein; einerseits um die Fälle, die wegen offenkundig kriminellen Unrechts gleich direkt zur Staatsanwaltschaft wandern. Andererseits aber auch dort, wo sich der/die BeschwerdeführerIn zu viel von der Ermittlungs- und Beschwerdestelle verspricht und deshalb die Sechswochenfrist zur Beschwerde beim Verwaltungsgericht versäumt. Es darf nämlich nicht übersehen werden, dass die Verwaltungsgerichte bei der Tatsachenfeststellung von der „überwiegenden Wahrscheinlichkeit“ auszugehen haben, während eine strafgerichtliche Verurteilung schon bei begründetem Zweifel unterbleibt. Der Rechtsschutz ist daher bei den Verwaltungsgerichten wesentlich stärker ausgeprägt.

Erwähnenswert ist, dass der neuen Ermittlungsstelle ein Beirat beigegeben wird. Seine Funktion ist einer Art „Volksanwaltschaft für das BMI“ vergleichbar. Er fungiert außerdem als Meldestelle für Beschwerden, welche dort auch anonym deponiert werden können. In diesem Fall fragt sich allerdings, wie die Anonymität mit der Ermittlung eines konkreten Tatgeschehens vereinbar sein (und bleiben) kann. Als Beratungsorgan wird der Beirat immerhin seinen Zweck erfüllen. Es fehlt aber auch hier an einer Bezugnahme auf die Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte iSd Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG, ohne deren Einbeziehung die Tätigkeit des Beirats Stückwerk bleibt.

Zu begrüßen ist die Einführung einer allgemeinen Meldepflicht für Misshandlungsvorwürfe im gesamten Bereich des Innenministeriums. Gleiches gilt für das korrespondierende Melderecht für alle Bundesbediensteten, bei dem sich aber die Frage des Schutzes der WhistleblowerInnen stellt, da bei die entsprechende EU-Richtlinie durch das HinweisgeberInnenschutzgesetz (HSchG) nur im nötigen Mindestumfang umgesetzt worden ist.

Wenn jedoch in den Erläuternden Bemerkungen zwar die Volksanwaltschaft – sehr ungenau, denn ihre Aufgabe ist die Prüfung von Missständen in der Verwaltung – als „sonstige Rechtsschutzeinrichtung“ bezeichnet wird, hingegen die Beschwerde nach Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG bei den Verwaltungsgerichten im ganzen Text nicht einmal mit einer Silbe erwähnt wird, drängt sich leider der Gedanke auf, dass es sich bei dem Entwurf um ein wenig durchdachtes Stück politischen Aktionismus handeln könnte.

Wolfgang Helm, zuständig u.a. für Maßnahmenbeschwerden, Verwaltungsgericht Wien

Hier geht’s zum Ministerialentwurf samt Materialien …

Eine Stellungnahme kann bis zum 24.04.2023 eingebracht werden …

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