Ungleichbehandlung von Kunst und Religionsausübung war nicht gerechtfertigt
Der VfGH hat auf Grund eines Antrags mehrerer Kulturschaffender festgestellt, dass das Betretungsverbot für Kultureinrichtungen im Herbst 2021 gleichheitswidrig war. Ein erster, anderer Antrag der Kulturschaffenden 2021 war erfolglos geblieben (siehe hier). Diese und eine weitere Entscheidung wurden heute den Verfahrensparteien zugestellt.
Die 5. COVID-19-Notmaßnahmenverordnung sah für den Zeitraum vom 22. November 2021 bis 11. Dezember 2021 einen bundesweiten Lockdown (auch für Geimpfte und Genesene) vor. Das Betreten des Kundenbereichs von Kultureinrichtungen war in diesem Zeitraum untersagt (§ 7 Abs. 1 Z 4), und zwar ausnahmslos. Hingegen waren Zusammenkünfte zur gemeinsamen Religionsausübung vom Geltungsbereich der Verordnung ausgenommen (§ 18 Abs. 1 Z 7).
Gegen das Betretungsverbot für Kultureinrichtungen bestehen an sich keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Diese Maßnahme war geeignet, der Verbreitung von COVID-19, nämlich der damals dominierenden Delta-Variante, entgegenzuwirken; die Maßnahme war erforderlich sowie – im Hinblick auf die begrenzte Geltungsdauer von 20 Tagen – verhältnismäßig und verstieß daher nicht gegen die verfassungsgesetzlich geschützte Freiheit der Kunst.
Gleichheitswidrig war es jedoch, Zusammenkünfte zur Religionsausübung in jeder Form von den Beschränkungen dieses Lockdowns auszunehmen, also unabhängig davon, ob solche Zusammenkünfte im Freien oder in geschlossenen Räumen stattfinden, es sich um Gottesdienste, Andachten oder sonstige religiöse Gebräuche handelt und auch unabhängig von der Zahl der Teilnehmenden.
Eine sachliche Rechtfertigung für eine derartige Ungleichbehandlung von Religion und Kunst ist, so der VfGH, nicht zu erkennen. In beiden Fällen kommt bestimmten Grundrechtsausübungen gemeinsam mit oder vor anderen Menschen wesentliche Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund besteht im Hinblick auf die Zielsetzung, Menschenansammlungen möglichst hintanzuhalten, kein solcher Unterschied, der es rechtfertigen würde, Zusammenkünfte im Schutzbereich des Art. 17a StGG praktisch weitestgehend zu untersagen (Vermittlung von Kunst), während Zusammenkünfte im Schutzbereich des Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit) möglich sind.
Hier geht’s zur Entscheidung Zl. V 312/2021 vom 30.06.2022 …
Zweiter Lockdown für Ungeimpfte: „Grundbedürfnisse des täglichen Lebens“ änderten sich mit dessen Dauer
Eine Bestimmung, die während des sogenannten zweiten Lockdowns für Ungeimpfte galt, war gesetzwidrig, und zwar auf Grund von Argumenten, die erstmals in diesem Antrag vorgebracht wurden.
Personen, die weder gegen COVID-19 geimpft noch von COVID-19 genesen waren, durften ab dem 15. November 2021 den privaten Wohnbereich nur ausnahmsweise verlassen, etwa zur Deckung der notwendigen Grundbedürfnisse des täglichen Lebens z.B. in Apotheken oder Supermärkten. Infolge mehrerer Verlängerungen dauerte der Lockdown im Ergebnis bis zum 30. Jänner 2022, also elf Wochen. Diesem Umstand trug die 6. COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung über den zweiten Lockdown zuletzt nicht mehr ausreichend Rechnung. Im Licht der kumulierten Dauer dieser Maßnahme zählt nämlich z.B. auch ein Friseurbesuch zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens; dies war in der Verordnung jedoch nicht berücksichtigt. Der VfGH gab damit dem Antrag eines Oberösterreichers statt.
Der VfGH hat bereits im April 2022 über die ganztägige Ausgangsregelung und Betretungsbeschränkungen für Personen ohne einen 2G‑Nachweis nach der 6. COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung (den zweiten Lockdown für Ungeimpfte) entschieden. Vor dem Hintergrund der damals vorgebrachten, anderslautenden Bedenken war der Lockdown gesetzeskonform (siehe hier). Der VfGH kann über Anträge auf Prüfung einer Rechtsvorschrift nur anhand der jeweils vorgebrachten Bedenken entscheiden.