Der Verfassungsgerichtshof hat die Bestimmung des § 34 Verfassungsgerichtshofgesetz (VfGG), welche die Wiederaufnahme des Verfahrens bei Parteianträgen auf Normenkontrolle für unzulässig erklärt hat, wegen Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes und des Rechtsstaatsprinzips als verfassungswidrig aufgehoben (G 229/2021 vom 15.12.2021).
Besondere Bedeutung der Normenkontrolle für individuellen Rechtsschutz
Der Gerichtshof sieht keine sachliche Rechtfertigung dafür, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zwar im Verfahren nach der ZPO vor den ordentlichen Gerichten vorzusehen, nicht aber auch im Verfahren vor dem VfGH, in dem subsidiär ebenfalls die ZPO anzuwenden ist, da das Rechtsschutzinteresse in allen Verfahren gleichartig ist.
Auch steht es nach Auffassung des Gerichtshof mit dem Rechtsstaatsprinzip in Widerspruch, wenn die Wiederaufnahme des Verfahrens nur in den Fällen der Art 137, 143 und 144 B-VG gestattet ist, nicht aber (ua) für das Verfahren betreffend einen Antrag gem Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG (oder Art 139 Abs 1 Z 4 B-VG – Parteiantrag auf Normenkontrolle).
Der Zweck des Institutes der Wiederaufnahme des Verfahrens ist die Aufhebung einer gerichtlichen Entscheidung wegen eines der im Gesetz (§§ 530, 531 ZPO) genannten schwerwiegenden Mängel und ihre Ersetzung durch eine fehlerfreie Entscheidung. Bei der Abwägung zwischen dem Interesse an Rechtssicherheit und Bestandskraft eines Rechtsaktes einerseits und dessen Rechtmäßigkeit andererseits hat der Gesetzgeber zwar einen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum, der größer ist, wenn es um ein Verfahren geht, bei dem der individuelle Rechtsschutz des Einzelnen nicht im Vordergrund steht. So hat zB bei Verfahren nach Art141 B‑VG das allgemeine Interesse an der Rechtssicherheit und Bestandskraft Vorrang, sodass hier die Möglichkeit einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder einer Wiederaufnahme des Verfahrens nicht verfassungsrechtlich geboten ist (vgl VfSlg 16.309/2001). ). Hingegen ist im Hinblick auf die besondere Bedeutung, die die Bundesverfassung der Normenkontrolle (Art139 ff. B VG) auch im Zusammenhang mit dem individuellen Rechtsschutz beimisst, das Rechtsinstitut der Wiederaufnahme insoweit mindestens ebenso wichtig wie das der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl VfSlg 20.107/2016).
Der Verfassungsgerichtshof ist an die jeweiligen rechtskräftigen Entscheidungen der ordentlichen Gerichte im Anlassverfahren gebunden, sofern es sich dabei nicht um bloße „Verständigungen“ handelt, sondern um nach außen getretene Rechtsakte (Beschluss, allenfalls auch Urteil), die auch gegenüber den Parteien des Anlassverfahrens ergangen sind. In den Fällen, in denen der Verfassungsgerichtshof an die rechtskräftigen Entscheidungen der ordentlichen Gerichte hinsichtlich der Zulässigkeit des Rechtsmittels im Anlassverfahren gebunden ist, ist somit bei geänderter Vorfrageentscheidung die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens verfassungsrechtlich geboten.
Hier geht’s zum Erkenntnis des VfGH G 229/2021 vom 15.12.2021 …