Die Ausgangssperre ist schwer zu begründen und kaum durchzusetzen. Die Justiz muss sich nun das Gesamtpaket an Schutzmaßnahmen anschauen – auch die bisher geradezu skandalöse Schonung der Wirtschaft.
Das Bundesverfassungsgericht wird vielleicht schon bald über die jüngsten Verschärfungen des Infektionsschutzgesetzes entscheiden müssen. Mehrere Beschwerden sind angekündigt, übrigens auch von Vertretern einer strengeren Linie der Pandemiebekämpfung. Sie werden vor allem auf die Ausgangssperre zielen, die inzwischen zum Symbol geworden ist für eine Pandemiebekämpfung, die ihre Hilflosigkeit mit martialischen Einschränkungen kaschiert.
Um eines vorwegzuschicken: Auch das Verfassungsgericht wird dem Gesetzgeber einen großen Einschätzungsspielraum einräumen. Es wird nicht den Wirkungsgrad einzelner Maßnahmen bis hinters Komma gegeneinander aufrechnen. Es wird dem Bund auch nicht versagen, nach dem Prinzip „Viel hilft viel“ vorzugehen. Das Virus verzeiht es nicht, wenn zu viele Schlupflöcher bleiben. In einer solchen Krise schlägt die Stunde der Politik. Da geht die Justiz nicht mit der Goldwaage zu Werke.
Die Gefahr einer Ansteckung durch Aerosole lauert vor allem in Innenräumen
Andererseits ist die Ausgangssperre ein fundamentaler Eingriff in die Freiheit der Menschen. Sie mag sich für viele nicht so anfühlen, die Mehrheit ist nach 22 Uhr ohnehin zu Hause. Und es stimmt, die partielle Unfreiheit ist durch viele Ausnahmen („körperliche Bewegung im Freien“) abgemildert. Aber dass der Staat den Bürgern vorschreibt, wann sie auf die Straße dürfen und wann nicht, kennt man aus Kriegszeiten oder von nervös gewordenen Autokraten. Um so etwas in einem demokratischen Rechtsstaat anzuordnen, muss man sehr, sehr gute Gründe haben.
Natürlich wäre eine Pandemie ein solcher Grund – aber eben nur, wenn eine Ausgangssperre verhältnismäßig wäre. Daran sind Zweifel angebracht. Schon im Ansatz ist es widersinnig, den Gang nach draußen zu verbieten, wo doch im Inneren – Stichwort Aerosole – die Gefahr lauert. Aber auch wenn sie in Wahrheit der Verhinderung abendlicher Feiern dient, hat der Bundestag in letzter Minute sein eigenes Instrument zerschossen: Ausgangssperre erst ab 22 Uhr, Bewegung im Freien bis 24 Uhr. Da kann man nur die Polizisten bedauern, die nachts Fußgänger nach dem Zweck ihres Ausflugs befragen müssen.
Richter müssen sich nun fragen, wie geeignet die Maßnahmen sind
Oder der Inzidenzwert von 100: Kritiker sagen einen Jo-Jo-Effekt voraus, weil jede Lockerung unter 100 den Wert sofort wieder nach oben treibt. Richter fragen zuerst nach der „Geeignetheit“ einer Maßnahme. An diesem Punkt werden sie eher verständnislos dreinschauen.
Das gilt vermutlich auch für die bisher geradezu skandalöse Schonung der Wirtschaft. Zwar hat der Gesetzgeber hier inzwischen mit der Pflicht zu Testangeboten und einer Home-Office-Pflicht nachgebessert. Aber wenn es um drastische Einschränkungen wie eine Ausgangssperre geht, dann erkundigen sich Gerichte auch nach dem dahinterstehenden Gesamtkonzept. Wenn dort, wo man die Inzidenzzahlen wirklich drücken könnte – in den Büros -, zu wenig getan wird, dann kann dies auch das juristische Aus für eine ohnehin wenig effektive Maßnahme wie die Ausgangssperre bedeuten.
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