Judikatur VfGH / Sterbehilfe: Jede Art der Hilfe zur Selbsttötung ausnahmslos zu verbieten, ist verfassungswidrig

Zuletzt hatte sich der Verfassungsgerichtshof im Jahr 2016 mit der Frage der Zulässigkeit der Sterbehilfe im Zusammenhang mit der versuchten Gründung eines Sterbehilfevereins auseinandergesetzt.

Das Verwaltungsgericht Wien hatte dessen Gründung untersagt. Dagegen wurde Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof erhoben. In seiner Entscheidung vom 08.03.2016, E 1477/2015, sprach der Gerichtshof aus, die rechtliche Folgerung des Verwaltungsgerichtes Wien in der angefochtenen Entscheidung, dass dieser Vereinszweck gegen § 78 StGB verstößt, sei zutreffend. Schon deshalb – da der Vereinszweck offenbar zumindest teilweise gesetzwidrig ist – wurde die Bildung des Vereins zu Recht untersagt.

Weiters stellte der Gerichtshof fest, dass der der Versagung der Vereinsgründung zugrundeliegende § 78 StGB unter Bedachtnahme auf Art. 11 Abs. 2 EMRK nicht verfassungswidrig ist, da der Gesetzgeber den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum nicht überschritten hat, wenn er das generelle Verbot der Beihilfe zum Selbstmord als zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer als notwendig erachtet.

Freilich räumte der Gerichtshof schon in dieser Entscheidung ein, sei dem Beschwerdeführer zuzugestehen, dass der Gesetzgeber diesen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum auch mit anderem Ergebnis nutzen könnte.

Verbot der Hilfeleistung zum Suizid aufgehoben

Nun hat der Gerichtshof mit Erkenntnis (G 139/2019) jenen Teil des Paragrafen 78 StGB als verfassungswidrig aufgehoben, der die Hilfeleistung zum Suizid unter Strafe als stellt. Es sei verfassungswidrig, jede Art der Hilfe zur Selbsttötung ausnahmslos zu verbieten, so die Verfassungsrichter. Diese Gesetzespassage verstoße gegen das Recht auf Selbstbestimmung, weil der Tatbestand „jede Art der Hilfeleistung unter allen Umständen verbietet“. Die Aufhebung der Bestimmung tritt mit Ablauf des 31. Dezember 2021 in Kraft.

Aus den Entscheidungsgründen:

> Aus mehreren grundrechtlichen Gewährleistungen, insbesondere aus dem Recht auf Privatleben, dem Recht auf Leben und dem Gleichheitsgrundsatz, ist das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht des Einzelnen auf freie Selbstbestimmung ableitbar.

> Dieses Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst das Recht auf die Gestaltung des Lebens ebenso wie das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben. Das Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst auch das Recht des Suizidwilligen, die Hilfe eines dazu bereiten Dritten in Anspruch zu nehmen.

> Das Verbot der Selbsttötung mit Hilfe eines Dritten kann einen besonders intensiven Eingriff in das Recht des Einzelnen auf freie Selbstbestimmung darstellen.

> Beruht die Entscheidung zur Selbsttötung auf der freien Selbstbestimmung des Betroffenen, so ist dies vom Gesetzgeber zu respektieren.

> Aus grundrechtlicher Sicht macht es keinen Unterschied, ob der Patient im Rahmen seiner Behandlungshoheit oder der Patientenverfügung in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes lebensverlängernde oder lebenserhaltende medizinische Maßnahmen ablehnt oder ob ein Suizident mit Hilfe eines Dritten in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes sein Leben beenden will. Entscheidend ist vielmehr in jedem Fall, dass die jeweilige Entscheidung auf der Grundlage einer freien Selbstbestimmung getroffen wird.

> Nach Auffassung des VfGH steht es zu dem sowohl in der verfassungsrechtlich begründeten Behandlungshoheit als auch in § 49a Abs. 2 Ärztegesetz 1998 (hinsichtlich der Einhaltung der Patientenverfügung) zum Ausdruck kommenden Stellenwert der freien Selbstbestimmung im Widerspruch, dass § 78 zweiter Tatbestand StGB jegliche Hilfe bei der Selbsttötung verbietet.

> Wenn einerseits der Patient darüber entscheiden kann, ob sein Leben durch eine medizinische Behandlung gerettet oder verlängert wird, und andererseits durch § 49a Ärztegesetz 1998 sogar das vorzeitige Ableben eines Patienten im Rahmen einer medizinischen Behandlung in Kauf genommen wird, ist es nicht gerechtfertigt, dem Sterbewilligen die Hilfe durch einen Dritten bei einer Selbsttötung zu verbieten und derart das Recht auf Selbstbestimmung ausnahmslos zu verneinen.

> Der Verfassungsgerichtshof übersieht nicht, dass die freie Selbstbestimmung auch durch vielfältige soziale und ökonomische Umstände beeinflusst wird. Dementsprechend hat der Gesetzgeber zur Verhinderung von Missbrauch Maßnahmen vorzusehen, damit die betroffene Person ihre Entscheidung zur Selbsttötung nicht unter dem Einfluss Dritter fasst.

> Jemand anderen zur Selbsttötung zu verleiten, bleibt strafbar (erster Tatbestand des § 78 StGB). Die Entscheidung, sich unter Mitwirkung eines Dritten zu töten, ist nur dann grundrechtlich geschützt, wenn sie, wie bereits ausgeführt, frei und unbeeinflusst getroffen wird. Diese Bedingung ist von vorneherein nicht erfüllt (Tatbestand des „Verleitens“).

> Die Anfechtung von § 77 StGB (Tötung auf Verlangen) ist nicht zulässig. Im Falle einer Aufhebung wäre die Tötung eines Menschen auf dessen Verlangen als Mord oder Totschlag zu ahnden. Mit der Aufhebung wären daher die Bedenken der Antragsteller gegen § 77 StGB nicht ausgeräumt; insofern war der Anfechtungsumfang zu eng.

 

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