Judiktur VwGH / Verfahrensrecht: Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz bei Abnahmefall 

Solange in der Ausfertigung einer mündlich verkündeten Entscheidung Spruch und wesentliche Begründungselemente deckungsgleich sind, sind durch einen nach der Geschäftsverteilung vorgesehenen (Ausnahme-)Fall eines Richterwechsels nach der Verkündung einer Entscheidung Verfahrensmängel nicht indiziert.

Wenn der die schriftliche Ausfertigung unterfertigende („neue“) Richter aber zusätzliche Begründungselemente anführt, die ohne seine Teilnahme an der Verhandlung auch einen Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz gemäß § 48 Abs. 1 VwGVG bedeuten würden, liegt Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften vor (VwGH vom 26. Februar 2020, Ra 2019/09/0154).

Richterwechsel zwischen Verkündung und Ausfertigung des Erkenntnisses

In einem vor dem Verwaltungsgericht Wien geführten Disziplinarverfahren hatte ein Senat (drei Berufs- und zwei Laienrichtern) die Beschwerde des Revisionswerber abgewiesen, das angefochtene Disziplinarerkenntnis bestätigt sowie die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für unzulässig erklärt.

Nach dem Verhandlungsprotokoll beinhaltete die Verkündung den Spruch des Erkenntnisses „samt den wesentlichen Entscheidungsgründen sowie der Rechtsmittelbelehrung“. Weiters wurde im Protokoll festgehalten, dass die schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses mit ausführlicher Begründung den Parteien zugestellt werde.

In weiterer Folge wurde dem Berichter mit Beschluss des Geschäftsverteilungsausschusses die Rechtssache – wegen mehrmonatiger krankheitsbedingter Abwesenheit des Richters – abgenommen. Die dann ergangene schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses umfasst neben dem wortgleichen Spruch zur verkündeten Fassung eine umfangreiche Darlegung der Entscheidungsgründe. Die Besetzung des im Kopf der Entscheidung ausgewiesenen Senates unterscheidet sich von jenem zum Zeitpunkt der Verkündung dadurch, dass darin drei andere Berufsrichter angeführt sind, als jene, welche die verkündete Entscheidung getroffen hatten.

Protokoll der mündlich verkündeten Entscheidung ist für Entscheidungsinhalt wesentlich

Der Gerichtshof erachtet die dagegen erhobene Revision als zulässig und Ergebnis berechtigt, weil im Zusammenhang mit der gerügten Änderung der Senatsbesetzung zwischen mündlicher Verkündung und Ausfertigung des angefochtenen Erkenntnisses auch Begründungsmängel aufgezeigt wurden.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 67g Abs. 1 AVG  kann ein Begründungsmangel, der geeignet ist, die Überprüfung des mündlich verkündeten Bescheides auf seine Rechtmäßigkeit zu hindern, auch dann vorliegen, wenn die schriftliche Begründung von der verkündeten wesentlichen  Begründung abweicht (vgl. VwGH 28.2.2002, 2002/02/0222).

Diese  Rechtsprechung ist auf die Verkündung und Ausfertigung der Erkenntnisse  durch das Verwaltungsgericht (§ 29 VwGVG) zu übertragen: weicht die  Begründung der schriftlichen Ausfertigung in einem wesentlichen Punkt von jener ab, die in der Niederschrift zur mündlichen Verkündung dokumentiert ist, sodass nicht nachvollzogen werden kann, welche tragenden Überlegungen tatsächlich für die getroffene  Entscheidung ausschlaggebend waren, so liegt ein Begründungsmangel der  angefochtenen Entscheidung vor (VwGH 3.10.2016, Ra 2016/02/0160).

Nach dieser Judikatur ist für den Inhalt der mündlich verkündeten Entscheidung nicht die Ausfertigung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung, sondern jene Urkunde entscheidend, die über den Entscheidungsinhalt und die Tatsache der Verkündung angefertigt wurde, also das Protokoll über die mündliche Verhandlung. Dieses Protokoll beinhaltet zwar den Spruch der Entscheidung und die  Verneinung der Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Revision beim  Verwaltungsgerichtshof, es fehlt aber darin jegliche Darstellung der Entscheidungsgründe.

Wenn das Abweichen der Begründung der schriftlichen Ausfertigung in einem wesentlichen Punkt von jener, die in der Niederschrift zur mündlichen Verkündung dokumentiert ist, einen Begründungsmangel darstellt, so muss dies umso mehr für den Fall gelten, dass die Niederschrift zur mündlichen Verhandlung keinerlei Begründung enthält und damit nicht einmal ansatzweise nachvollzogen werden kann, welche tragenden Überlegungen für die getroffene Entscheidung ausschlaggebend waren.

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