Niederlande: „Richter-Bashing“ nach Klimaurteil

Mit dem als historisch erachteten sogenannten „Urgenda“-Urteil  hat der „Hohe Rat der Niederlande“ die Regierung verpflichtet, den Ausstoß von klimaschädlichen Treibhausgasen bis Ende 2020 um mindestens 25 Prozent zu verringern.

Obwohl die holländische Regierung bereits im Vorfeld erklärt hatte, sie werde sich an das Urteil halten, führte diese Entscheidung in den Niederlanden zu einem „Richterbashing“, vergleichbar mit den Vorgängen in Österreich beim ersten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur „Dritten Piste“ – wenn auch mit umgekehrten Rollen von Regierung und Opposition.

Die Opposition wirft den Höchstrichtern vor, ihr Mandat überschritten zu haben und fordert Gesetze, welche Richter hindern sollen, politisch heikle Fragen zu entscheiden. Gewarnt wird von einer „Dikastokratie“ d. h. der Herrschaft der Richter.

Diese Kritik wurde umgehend von der polnischen Regierung aufgegriffen, welche den Holländischen Ombudsmann auffordert, sich mehr um die Niederlande zu kümmern, damit die Richter dort zukünftig keine politischen Entscheidungen mehr treffen können. Außerdem weist die polnische Regierung darauf hin, dass die niederländischen Richter nicht über die ausschließliche Befugnisse für Ernennungs- und Beförderungsentscheidungen und den Niederlande verfügen und den Niederlanden dennoch nicht der Vorwurf des Verstoßes gegen die Rechtsstaatlichkeit gemacht werde.

Nicht erwähnt wird von der polnischen Regierung, dass die Auswahl der Richter in Holland von den Richtern selbst vorgenommen wird und seit dem Jahr 1815 die Krone stets den Richternominierungen der Justiz gefolgt ist.

Marc de Wird, Richter am „Court of Appeal“ in Amsterdam, Rechtsprofessor an der Universität Amsterdam und Mitglied des „Consultative Council for European Judges of the Council of Europe” nimmt auf “Verfassungsblog.de” zu dieser Entwicklung Stellung. Er erläutert das „Urgenda“-Urteil, die politischen Reaktionen darauf und beantwortet die Frage, ob die Richter ihr Mandat überschritten haben.
Hier der Beitrag in Übersetzung (machine-translation):

Vor einigen Tagen, in MBS News, wurde vorgeschlagen, in den Niederlanden einen Gesetzentwurf auszuarbeiten mit dem Ziel, niederländische Richter daran zu hindern, über politisch heikle Fragen zu entscheiden. In einem Interview hatte sich der niederländische Rechtspopulist Thierry Baudet über das Urteil des niederländischen Obersten Gerichtshofs in der bekannten Rechtssache Urgenda beschwert. In dieser Rechtssache verurteilte der Gerichtshof den niederländischen Staat, seine Treibhausgasemissionen bis 2020 gegenüber dem Stand von 1990 um 25 % zu senken. MBS News zitierte Thierry Baudet mit der Begründung, dass die Richter in der Rechtssache Urgenda einen sehr großen Fehler begangen haben. „Aktivistische Richter machen umweltaktivistische Urteile und gehen damit über ihr Mandat hinaus. Der Richter untergräbt seine eigene Position.“ Mit einem neuen Gesetz, berichtet MBS, will Baudet sicherstellen, dass Richter nicht mehr in der Lage sind, über politisch heikle Fragen zu entscheiden.

Die Nachricht von MBS-News wurde sofort von der polnischen Regierung aufgegriffen. Der polnische Justizminister antwortete auf Twitter unter Bezugnahme auf MBS News auf eine Botschaft von Adam Bodnar: „Sehr geehrte Bürgerbeauftragte @Adbodnar! Sie kümmern sich besser um die Niederlande, damit künftig Richter in politischen Fragen vielleicht nicht mehr entscheiden!“

Es ist nicht das erste Mal, dass die polnische Regierung den Finger gegen die Niederlande hebt und politische Einflussnahme auf die Justiz nahelegt. In ihrem Weißbuch über die Reform des polnischen Justizwesens beschwert sich die polnische Regierung darüber, dass niederländische Richter nicht über die ausschließliche Befugnisse für Ernennungs- und Beförderungsentscheidungen verfügen und dass gegen die Niederlande dennoch keinen Vorwurf des Verstoßes gegen die Rechtsstaatlichkeit gemacht wird. Die niederländischen Richter werden von der Krone und nicht vom Rat für Gerichtswesen ernannt. Im Weißbuch der polnischen Regierung wird nicht darauf hingewiesen, dass es in den Niederlanden eine starke Tradition der justiziellen „Ergänzungswahl“ gibt. Die Richter wählen die Kandidaten aus und schlagen sie für die Ernennung vor. Seit 1815 ist die Krone stets den Nominierungen der Justiz gefolgt.

Urgenda

Ich wurde vom Verfassungsblog gefragt, ob die Geschichte, dass ein neues „Maulkorb“- Gesetz gegen Richter in Ausarbeitung ist, wahr ist oder nicht. Nein, ist es nicht. Es trifft jedoch zu, dass der Fall Urgenda nicht von allen begrüßt wurde, nicht nur von Populisten, sondern auch von einigen Rechtsprofessoren. Der Oberste Gerichtshof wurde kritisiert, weil er sein Mandat überschritten hat und ohne zwingende rechtliche Notwendigkeit zu viel auf die EMRK zurückgreift.

Dies hat nach Aussage der Beobachter des niederländischen Parlaments in jüngster Zeit zur Bildung einer parlamentarischen Arbeitsgruppe geführt, die nun das Problem der „Dikastokratie“ untersuchen wird (d. h. eine Herrschaft der Richter, ein Begriff, der von dem genannten Politiker Thierry Baudet eingeführt wurde). Die Arbeitsgruppe wird „Anhörungen“ mit interessierten Kreisen (Politikern, Richtern, Journalisten) veranstalten, die möglicherweise in Empfehlungen münden. Es wird erwartet, dass sich die Arbeitsgruppe, wenn sie in der Lage sein wird, eine Stellungnahme abzugeben, auf Zivilverfahren konzentrieren wird, insbesondere auf die Frage der Sammelklagen vor Gericht in umstrittenen Fällen wie Urgenda. Die Initiative für die Arbeitsgruppe stammt vom Parteiforum für Demokratie von Thierry Baudet.

Sollten wir uns um diese Entwicklung kümmern? Ich meine nicht. In jeder gesunden Demokratie könnte ein Erdrutschurteil gegen die Regierung zu einer Diskussion über die Rolle der Richter führen. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte hat die Position des Obersten Gerichtshofs der Niederlande bereits nachdrücklich verteidigt. Er erklärte, dass die Entscheidung in der Rechtssache Urgenda nicht das Ergebnis eines aktivistischen Gerichts sei und dass der Gerichtshof keine politische Haltung einnehme, sondern nationales und internationales Recht anwende.

In diesem Zusammenhang war es sehr hilfreich, dass der Oberste Gerichtshof in der Urgenda-Entscheidung ausführlich seinen Standpunkt vor dem Hintergrund seiner nationalen verfassungsrechtlichen Pflichten und seiner Rolle als „europäischer“ Richter erläuterte:

„Politischer Bereich

Der Oberste Gerichtshof führt zur Beurteilung des allgemeineren Vorbringens des Staates an, dass es nicht Sache der Gerichte sei, jene politischen Erwägungen zu treffen, die für eine Entscheidung über die Verringerung der Treibhausgasemissionen erforderlich seien.
Wie bereits oben erwähnt, liegt im niederländischen Verfassungssystem die Beschlussfassung über die Verringerung der Treibhausgasemissionen in der Macht der Regierung und des Parlaments. Sie verfügen über einen großen Ermessensspielraum bei der Formulierung der insoweit erforderlichen politischen Erwägungen. Es ist Sache der Gerichte zu entscheiden, ob sich die Regierung und das Parlament bei der Ausübung dieses Ermessens innerhalb der Grenzen des Rechts, an das sie gebunden sind, gehalten haben.

Zu den oben genannten Grenzen gehören auch die Grenzen, die sich für den Staat aus der EMRK ergeben. Wie dargelegt, sind die Niederlande an die EMRK gebunden, und die niederländischen Gerichte sind nach den Artikeln 93 und 94 der niederländischen Verfassung verpflichtet, deren Bestimmungen im Einklang mit der Auslegung des EGMR anzuwenden. Der darin vorgesehene Schutz der Menschenrechte ist ein wesentlicher Bestandteil eines demokratischen Rechtsstaats.

In diesem Fall liegt eine Ausnahmesituation vor. Schließlich besteht die Gefahr eines gefährlichen Klimawandels und es liegt auf der Hand, dass dringend Maßnahmen ergriffen werden müssen, wie das Bezirksgericht und das Berufungsgericht festgestellt haben und auch der Staat anerkennt. Der Staat ist verpflichtet, in diesem Zusammenhang „seinen Teil“ zu leisten. Gegenüber den Einwohnern der Niederlande, deren Interessen „Urgenda“ im vorliegenden Fall verteidigt werden, ergibt sich diese Pflicht aus den Art. 2 und 8 EMRK, wonach der Staat verpflichtet ist, das Recht auf Leben und das Recht auf Privat- und Familienleben seiner Einwohner zu schützen.“

Im Übrigen begrüßte der Präsident des EGMR, Linos-Alexandre Sicilianos, in seiner Rede bei der offiziellen Eröffnung des Gerichtsjahres des EGMR ausdrücklich das Ergebnis der Rechtssache Urgenda. Dies wird ein wichtiger Faktor für die weitere Diskussion in den Niederlanden über den Anwendungsbereich der EMRK und die Rolle der Richter in einer Demokratie sein.

Die Arbeitsgruppe zur Untersuchung der „Dikastocracy“ in den Niederlanden wird den eleganten Hinweis zur Kenntnis nehmen müssen, den Sicilianos auf die Niederlande gemacht hat:

„Wir sind leider in das Zeitalter von Anthropocene eingetreten, in dem die Natur vom Menschen zerstört wird. In diesem Zusammenhang ist es mehr denn je richtig und angemessen, dass der Gerichtshof seine Autorität einsetzt, die es ihm ermöglicht, das Recht, in einer gesunden Umwelt zu leben, zu verankern. Der Umweltnotstand ist jedoch so beschaffen, dass der Gerichtshof nicht allein handeln kann. Wir können diesen Kampf nicht für das Überleben des Planeten monopolisieren. Wir alle müssen gemeinsam Verantwortung übernehmen.(−) Bei dieser als historisch erachteten Entscheidung stützte sich der Oberste Gerichtshof der Niederlande ausdrücklich auf die Europäische Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung unseres Gerichtshofs. Indem sie sich direkt auf die Konvention stützten, betonten die niederländischen Richter, dass die Europäische Menschenrechtskonvention tatsächlich zu unserer gemeinsamen Sprache geworden ist und dass dieses Instrument echte Antworten auf die Probleme unserer Zeit liefern können.“

Abschließend ist festzustellen, dass der Verweis der polnischen Regierung auf ein „Maulkorb“-Gesetz für niederländische Richter in der Hauptsache unbegründet ist. Beunruhigender ist jedoch das Phänomen, dass Politiker faktenfreie Informationen verbreiten. Leider ist dies zu einem zentralen Instrument der Populisten geworden. Nicht nur in Polen, sondern in vielen Ländern Europas. In meinem Blog der europäischen Gerichte habe ich kürzlich den Begriff „Dikastophobie“ (Δικαστοήοβια: „Angst vor Richtern“) verwendet. Es handelt sich um eine gefährliche politische Strategie, die sich häufig in Zeiten sozialer Unruhen abzeichnet. Denn diejenigen, die bewusst das Vertrauen der Öffentlichkeit in Richter untergraben, unterminieren die Wurzeln der Rechtsstaatlichkeit und unserer demokratischen Gesellschaften.

Hier der Beitrag im Original: Fact Check- Is there a ‘Muzzle Law’ for Dutch Judges in the Making? No!

Siehe dazu auch: Niederlande- Höchstgericht verpflichtet Regierung zur Einhaltung der Klimaziele

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