Mit Sorge verfolgt das EU-Parlament die von Ungarn beschlossene Einrichtung neuer Verwaltungsgerichte, da die Unabhängigkeit der neuen Gerichte durch die Möglichkeit politischer Einflussnahme nicht gewährleistet erscheint. Dort beruft man sich jedoch auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich und Bayern als Vorbilder.
Neue Verwaltungsgerichte ab 2020
In Ungarn wurde beginnend mit 1997 bis zum Jahr 2011 eine starke richterliche Selbstverwaltung entwickelt. Wesentliche Aufgaben der Justizverwaltung waren einem von der Vollversammlung der Richter gewählten Justizrat übertragen. Der Rechtsschutz gegenüber behördlichen Entscheidungen (Art 47 Grundrechtecharta) wurde von den Zivilgerichten übernommen. Dort wurden, ähnlich wie in Tschechien oder Rumänien, eigene Abteilungen für Verwaltungsrecht eingerichtet.
Durch eine Änderung des Grundgesetzes wurde im Juni 2018 ein neues System von spezialisierten Verwaltungsgerichten eingeführt. Ab Jänner 2020 werden damit ein neues Oberstes Verwaltungsgericht – mit Sitz in Esztergom und nicht in Budapest – und 8 Verwaltungsgerichte erster Instanz eingerichtet.
Die Kritik richtet sich vor allem gegen folgende Punkte der Reform:
Für die neuen Verwaltungsgerichte wird ein neuer nationaler Richterrat eingerichtet. Anders als bei den ordentlichen Gerichten hat dieser aber nur beratende und keine entscheidende Funktion mehr. Er besteht aus 11 Mitgliedern, von denen allerdings nur fünf von den Richtern selbst gewählt werden, den Vorsitz führt der Präsident des Obersten Verwaltungsgerichts. Die Organisations- und Personalhoheit für die neuen Verwaltungsgerichte obliegt ausschließlich dem Justizminister.
Der Präsident der Obersten Verwaltungsgerichts wird auf Vorschlag des Präsidenten der Republik vom ungarischen Parlament gewählt. Hier kommt eine besondere Übergangsregelung zur Anwendung: Ehemalige Richter, welche die Justiz verlassen haben, können ohne Auswahlverfahren neu bestellt werden. So soll die Wahl eines Vertrauten des Ministerpräsidenten zum neuen Gerichtspräsidenten ermöglicht werden, der derzeit Rektor einer Universität ist. Diese Wahl ist für Ende März 2019 geplant. Dem neuen Präsidenten obliegt dann auch die Organisation der erstinstanzlichen Verwaltungsgerichte.
Das neue ungarische Modell dürfte in Widerspruch zu den Vorgaben der Opinion Nr. 10 (2007) des CCJE (The Council for the Judiciary at the Service of Society) und der Opinion Nr. 19 (2016) (The Role of Court Presidents) stehen.
Präsident erlässt Geschäftsverteilung
Der Präsident des Obersten Verwaltungsgerichtes verfügt über eine große Machtfülle, er erlässt – ohne nähere gesetzliche Regelungen – auch die Geschäftsverteilung für das Gericht. Das trifft auch für die Geschäftsverteilungen der erstinstanzlichen Verwaltungsgerichte zu. Das Oberste Verwaltungsgericht kann auch – offenbar ohne konkreten Anlassfall- Leitentscheidungen erlassen. Diese Regelung dürfte in Widerspruch zur Opinion Nr. 20 (2017) des CCJE stehen.
Die Präsidenten der neuen Verwaltungsgerichte erster Instanz werden vom Justizminister ernannt. Auch hier kommt eine besondere Übergangsbestimmung zur Anwendung: Für jene Richter, die bereits derzeit eine Leitungsfunktion innehaben, endet die Leitungsfunktion einen Tag bevor die neuen Verwaltungsgerichte ihre Arbeit aufnehmen. So sollen sämtliche Leitungsfunktionen bei den Verwaltungsgerichten neu besetzt werden können.
Allerdings haben hier übergangene Bewerber seit dem Jahr 2011– anders als in Österreich – eine Beschwerdemöglichkeit vor einem Gericht.
Beamte als Richter bevorzugt
Ein weiterer Kritikpunkt ist das Auswahlverfahren für Verwaltungsrichter, da dieses Bedienstete aus der öffentlichen Verwaltung bei einer Bewerbung klar bevorzugt. Eine Regelung, die insoferne als problematisch angesehen wird, weil in Ungarn seit dem Jahr 2010 die Verwaltung immer mehr politisiert wurde und durch einen Ministerialerlass z.B. die mangelnde Treue zur staatlichen Bürokratie oder das fehlende Vertrauen des Vorgesetzen als Kündigungsgründe eingeführt wurden. Es bestehen daher Zweifel, ob die ihrem Dienstgeber gegenüber loyalen öffentlichen Bediensteten in der Lage sind, über Rechtssachen gegen ihren früheren Arbeitsgeber unparteiisch zu entscheiden.
Beim Auswahlverfahren findet ein Hearing vor einem Komitee des Nationalen Richterrats für die Verwaltungsgerichtsbarkeit statt, allerdings räumt das Gesetz der subjektiven Einschätzung ein relativ großes Gewicht ein. Der Justizminister kann von der Reihung abgehen oder das Ausschreibungsverfahren als erfolglos einstellen, wenn kein seiner Ansicht nach geeigneter Kandidat vorhanden ist (in Österreich von Verfassungswegen nicht anders).
Österreich als Vorbild
Die Gesetzmaterialen nennen als Hauptargument für eine, von der übrigen Gerichtsbarkeit getrennte Verwaltungsgerichtsbarkeit das Erforderniss des speziellen Fachwissens für die Führung von Verwaltungsverfahren. Darüber hinaus verweisen sie auf die relative Freiheit des Gesetzgebers, zwischen verschiedenen Modellen der Justizverwaltung zu wählen. Sie nennen Österreich und Bayern als euorpäische Beispiele für die Unterstellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in die Kompetenz der Verwaltung („governmental ledership“) und nicht in die Zuständigkeit des allgemeinen Justizrates.
Siehe dazu:
Nicht nur Polen – Die EU hat ein Problem mit der Rechtsstaatlichkeit
Und:
Ungarn berät Türkei bei Justizreform