Bei der Podiumsdiskussion zeigte sich, dass die angesprochenen Problemfelder für alle Sparten der Gerichtsbarkeit und für viele Justizsysteme in Europa aktuell sind.
Mia Wittmann-Tiwald, Präsidentin des Handelsgerichtes Wien und Mitbegründerin der „Sektion Grundrechte“ in der Richtervereinigung, sagte, sie sei überrascht gewesen, mit welcher Offenheit nach dem Urteil zur 3. Piste des Flughafens Wien von Politikern eine direkte Einflussnahme auf das Bundesverwaltungsgericht gefordert worden war.
Es gebe verschiedene Arten der Einflussnahme und sie warnte davor, hier naiv zu sein. Oft werde bereits vor Beginn eines Gerichtsverfahrens von Beteiligten medialer Druck aufgebaut, um ein bestimmtes Urteil zu erreichen.
Nicht zu unterschätzen seien auch Versuche, Sachverständige durch zivilrechtliche Klagen oder strafrechtliche Anzeigen während eines laufenden Verfahrens unter Druck zu setzen. Man müsse sich aber auch der Gefahr bewusst sein, dass Gerichte für politische Zwecke instrumentalisiert werden können, indem sie von Behörden nur gezielte Informationen erhalten, um so das Verfahren in eine bestimmte Richtung zu lenken. Dafür gebe es Beispiele in der Vergangenheit und auch in einem aktuellen Fall sei das nicht auszuschließen. Ein weiteres Tor zur Einflussnahme könne die mangelnde Ausstattung der Gerichte mit Ressourcen sein, verbunden mit der Forderung nach mehr und schnelleren Entscheidungen.
Die Flüchtlingskrise habe die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit im Jahr 2015 zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt erwischt, schilderte Sabine Lotz – Schimmelpfennig, Richterin am Bayrischen Verwaltungsgerichtshof und Vorsitzende der bayrischen Verwaltungsrichtervereinigung, weil die Politik in den Jahren davor Verwaltungsgerichte abgebaut habe. Jetzt würde jeder Verwaltungsrichter statistische gesehene mehr als 1.000 offene Asylverfahren zu entscheiden haben. Es zeige sich, dass für eine notwendige Aufstockung der Richterplanposten gar nicht mehr ausreichend qualifizierte Bewerber zu Verfügung stünden, der Markt sei „leergefischt“. Außerdem fehle es an geeigneten Räumlichkeiten. Jetzt werde versucht, die Senatszuständigkeit in Asylverfahren einzuschränken, eine Maßnahme, die von der Richterschaft massiv abgelehnt werde, da Richtersenate das notwendige Gegengewicht gegenüber der mächtigen Verwaltung bildeten.
In den neuen „Ankerzentren“ sollen zukünftig Asylwerber, Behörden und Verwaltungsgerichte unter einem Dach untergebracht werden. Die Politik erwarte sich durch diese Maßnahmen schnelle Verfahren mit „bestimmten Ergebnissen“. Auch hier gebe es Widerstand seitens der Richterschaft, weil der äußere Anschein der Unabhängigkeit der Gerichte so nicht mehr gegeben sei.
Ein Problem der permanenten Überlastung der Verwaltungsgerichte mit Asylverfahren bestehe darin, dass Richter ihre professionelle Distanz verlieren und zynisch werden können. Aus diesem Grund werde seitens der Verwaltungsgerichte großer Wert darauf gelegt, Richtern nicht ausschließlich Asylverfahren zuzuteilen, sondern auch andere Verfahren.
Unglücklich zeigte sich Lotz-Schimmelpfennig auch über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, dem Einsatz von bloß befristet bestellten Richtern zuzustimmen. Diese Entscheidung sei aus Rechtsschutzgründen abzulehnen. Der Hintergrund für diese Entscheidung könnte allerdings gewesen sein, dass befristet bestellte Richter in Asylsachen nur in Ostdeutschland eingesetzt werden. Hätte das Bundesverfassungsgericht deren Einsatz als unzulässig erklärt, wären zehntausende Asylentscheidungen mit einem Schlag nichtig gewesen.
Der Populismus sei die größte Gefahr für eine unabhängige Rechtsprechung. Diese Auffassung vertrat Lozan Panov, Präsident des bulgarischen obersten Kassationsgerichtshofes in Sofia. In Bulgarien versuche die Politik ihren Einfluss auf die Justiz immer weiter auszudehnen, mit dem Argument, dass sie durch Wahlen dazu legitimiert sei. Die Justizreformen der vergangenen Jahre hätten ausschließlich das Ziel gehabt, den politischen Einfluss auf den obersten Richterrat – dieser nimmt die Auswahl und Beförderung von Richtern vor – zu erhöhen. Mitglieder des Richterrates würden Personalentscheidungen in der laufenden Sitzung mittels SMS mit dem Ministerpräsidenten akkordieren. Seitdem er diese Einflussnahmen öffentlich gemacht habe, werde er und seine Familie in der Öffentlichkeit attackiert und diffamiert, bis hin zu tätlichen Angriffen und technischen Manipulationen an seinem Dienstwagen.
Der Generalstaatsanwalt sei zwar laut Verfassung unabhängig, aber stark mit dem politischen System und bestimmten Unternehmen verbunden. Dies sei ein Erbe der kommunistischen Ära. Dieser fungiere wie ein Schutzschirm, der verhindere, dass die allgegenwärtige Korruption verfolgt werde. Das sei die Erklärung dafür, dass es im Bereich der Korruption praktisch keine Strafverfolgung und keine Gerichtsurteile gebe. Als er als Präsident des Obersten Kassationsgerichtshofes die Chefin der rumänischen Antikorruptionsbehörde vor einigen Monaten nach Sofia zu einer Konferenz eingeladen habe, sei er in den Medien bezichtigt worden, er verfolge damit eigene politische Interessen.
Die Präsidentin der traditionellen Richtervereinigung sei mittels eines Disziplinarverfahrens jahrelang verfolgt worden, bis dieses Verfahren letztlich eingestellt werden musste, weil die Anschuldigungen völlig haltlos gewesen seien. Gleichzeitig seien als Konkurrenz zwei neue Richtervereinigungen gegründet worden, welche aber keinerlei Aktivität entwickelten. Insgesamt würden sich Richter tendenziell mehr in ihr Privatleben zurückziehen.
Der EU-Kommission sei die Situation der Justiz in Bulgarien wohl bekannt, das zeigten die Fortschrittberichte, es würden aber keine Maßnahmen ergriffen.
Ein differenziertes Bild über die Situation der Justizsysteme in Europa zeichnete Gerhard Reissner, früherer Präsident der europäischen Richtervereinigung und der Internationalen Richtervereinigung. Es sei einerseits ein stark steigendes Bewusstsein über die Bedeutung der Rechtsstaatlichkeit in Europa zu verzeichnen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der EuGH würden sich vermehrt in ihren Urteilen mit der richterlichen Unabhängigkeit befassen. Insbesondere das Vorabentscheidungsverfahren des irischen High Court zur mangelnden Unabhängigkeit der polnischen Justiz sei hier von Bedeutung.
Andererseits seien massive Angriffe auf die richterliche Unabhängigkeit zu beobachten, nicht nur in Ungarn, Polen und der Türkei, sondern auch in Westeuropa. Hier bestehe die besondere Bedeutung der nationalen und internationalen Richtervereinigungen darin, bestehende Probleme an den Europarat heranzutragen. Dieser erstatte jährlich einen Bericht über die Situation der Rechtsstaatlichkeit in Europa. Es zeige sich, dass die von Europarat geäußerte Kritik von der Politik durchaus ernstgenommen werde.
Auch für Ilse Reiter-Zatloukal, Professorin am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien, geht die größte Gefahr für eine unabhängige Justiz vom Populismus aus. Es sei die Tendenz zu beobachten, anhand einzelner Urteile Propaganda gegen Richter und das Justizsystem insgesamt zu machen, was durch die neuen sozialen Medien deutlich erleichtert werde. Ziel sei es, unter Berufung auf die politische Entscheidungsmacht den Einfluss auf die Justiz auszudehnen. Dabei werde versucht, den Begriff „Gerechtigkeit“ gegen die Rechtsstaatlichkeit zu stellen. Hier sei es wichtig, die Bedeutung der Gewaltenteilung und eines funktionierenden Rechtsstaats in das Bildungssystem einzubringen. Es handle sich um eine Querschnittsmaterie, die in allen Unterrichtsfächern berücksichtigt werden solle.
Die Diskussionsteilnehmer zeigten sich betroffen, dass nicht einmal zwei Flugstunden von Österreich entfernt in einem Mitgliedsstaat der EU Zustände herrschen, wie sie von Präsident Panov über die Situation in Bulgarien geschildert wurden. Es kristallisierte sich in der Diskussion heraus, dass selbst Verfassungsbestimmungen für sich genommen keinen verlässlichen Schutz für die richterliche Unabhängigkeit geben. Das belegten sowohl historische Erfahrungen als auch aktuelle Entwicklungen in einzelnen Staaten.
Als verlässlichster Schutz richterlicher Unabhängigkeit wurde eine öffentliche Meinung angesehen, der die Bedeutung eines funktionierenden Rechtsstaats bewusst ist. Zu dieser Bewusstseinsbildung beizutragen, ist eine der wesentlichen Aufgaben der richterlichen Standesvertretungen.