Mit der Justizreform erhält der Justizminister in Polen das Recht, jederzeit die Präsidenten der polnischen Gerichte sowie die Mitglieder des Obersten Gerichtshofs zu entlassen. Außerdem stellen die Gesetze das Gremium von Richtern, das bisher unabhängig über die Ernennung und Beförderung von Richtern entscheidet, unter den direkten Einfluss der Mehrheitspartei im Parlament. Schließlich erhält der Justizminister die Möglichkeit, in bestimmten Fällen rechtskräftige Gerichtsurteile, die bis zu 20 Jahre zurückliegen, durch eine außerordentliche Klage vor dem Obersten Gericht anfechten zu können.
Mit der Unterstellung der Richter unter die politische Kontrolle der Mehrheitspartei im Parlament, werden das Prinzip der Gewaltenteilung und das Recht auf ein faires Verfahren aufgehoben. Diese Grundsätze beruhen nicht nur Art 6 EMRK und Art 47 der EU-Grundrechtecharta, sondern sind auch in Art 9 der polnischen Verfassung festgelegt.
Rechtsstaatsprinzip ist das Rückgrat der Europäischen Union
Derzeit können Urteile in Zivil- oder Handelssachen in einem Mitgliedstaat ohne weitere Formalitäten in jedem anderen Mitgliedsstaat anerkannt und vollstreckt werden. Gleiches gilt für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls. Daran wird deutlich, warum es alle Mitgliedstaaten angeht, wenn das Rechtsstaatsprinzip in einem Mitgliedstaat nicht voll und ganz beachtet wird. Die Versuche des türkischen Staates, sich bei der Verfolgung seiner Gegner im Ausland und jener, die er dafür hält, der Hilfe von Interpol zu bedienen, machten deutlich, welche Sprengkraft der Mangel an Rechtsstaatlichkeit entwickeln kann.
Bereits im Jahr 2014 hatte die EU-Kommission in ihre Mitteilung an das EU-Parlament (COM/2014/0158 final) auf die besondere Rolle hingewiesen, welche das gegenseitige Vertrauen (mutual trust) aller EU-Bürger und nationalen Behörden in die Rechtsordnung der anderen Mitgliedstaaten hat.
In seiner Entschließung vom 10. November 2017 zur Lage der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Polen befürwortet das EU-Parlament ausdrücklich ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen wegen Verstößen gegen das Unionsrecht. Das Parlament zeigt sich zutiefst besorgt angesichts des überarbeiteten Gesetzes über das polnische Justizwesen und insbesondere seines Potenzials, die Unabhängigkeit der Justiz strukturell zu schädigen und die Rechtsstaatlichkeit in Polen zu schwächen.
Nun hat die Brüsseler Behörde ein Grundrechtsverfahren gemäß Artikel 7 des EU-Vertrags gegen Polen eröffnet, zum ersten Mal in der Geschichte der Union. Damit attestiert die Kommission offiziell, dass „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte (dh Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit) durch einen Mitgliedstaat besteht“.
Die Vorgänge in Polen sind nur der vorläufige Höhepunkt der Versuche in Europa, eine unabhängige Justiz politisch gefügig zu machen. Nicht nur in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten, dort aber mit besonderer Kaltschnäuzigkeit. Zu Recht verweist der rumänische Präsident Johannis auf das Risiko, dass auf Grund der aktuellen Justizreformen der Artikel 7 des EU-Vertrags auch gegen Rumänien aktiviert werden könnte. „Wer sich vorstellt, dass es keine Folgen geben wird, ist schlichtweg vom Mond gefallen.“
Klares Signal für Rechtsstaatlichkeit ist überfällig
Die Europäische Union muss ein einheitliches und klares Signal aussenden, will sie die Rechtsstaatlichkeit sicherstellen. Wenn sich die Mitgliedstaaten nicht entschieden gegen die systematische Zerstörung europäischer Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte stellen, dann können sie sich weitere Debatten über eine Reform der EU, wie sie von der Europäischen Kommission angekündigt wurde, sparen.