Der Eröffnungsvortrag von Nikolaus Forgó (Universität Hannover) näherte sich in ganz besonderer Weise dem Generalthema der Qualität richterlicher Entscheidungen.
von Wolfgang Helm
In Form von „Zeitsprüngen“ über die letzten 80 Jahre beleuchtete der Vortragende die Irrungen der deutschen Rechtslehre, die Diskussion über Zielvorgaben für das Jurastudium und dessen aktuellen Zustand (Stichwort: Verteidigungsminister zu Guttenberg). Dabei spannte er einen großen Bogen von den Vertretern eines – im Gegensatz zum allgemeinen Verständnis von Wissenschaftlichkeit stehenden – formalistischen „Falllösungstrainings“ im Studium bis hin zur Frage einer künftigen Automatisierbarkeit von richterlichen Entscheidungen.
Der Rückblick begann mit dem Standardwerk zur rechtswissenschaftlichen Methodenlehre, dessen Autor dem Unrechtsstaat des Dritten Reiches durchaus Vorschub geleistet hatte. Die von diesem Autor – immerhin – begonnene Auseinandersetzung mit der Nachkriegsdiskussion ist aus den späteren Ausgaben gleich wieder entfernt worden. Es verwundert daher nicht, dass vor fünf Jahren die die Autoren Heinig und Möllers in einem FAZ- Beitrag die Wissenschaftsgrundlage im deutschen Jurastudium gänzlich in Frage stellten; die Entwicklung von Fragestellungen und die Formulierung von Thesen werde nur ausnahmsweise gelehrt. Dies rief wiederum die Verteidiger der Falllösung auf den Plan, nach denen diese im Zentrum der Ausbildung und der Prüfungen verbleiben müsse. Eine zuletzt in die Debatte eingebrachte vermittelnde Lösung betont zwar die Bedeutung einer – unter Einbeziehung von Nachbardisziplinen zu entwerfenden – Theorie, die sich aber in der Konkretisierung des Einzelfalls bewähren müsse.
Bereits zehn Jahre zuvor hatte eine andere Diskussion Fahrt aufgenommen: Demnach sei die Bundesrepublik Deutschland in einem schleichenden Verfassungswandel von einem auf Gewaltenteilung gegründeten Rechtsstaat zu einem „Richterstaat“ geworden. Gesetzen aus den unterschiedlichsten Epochen werde ein jeweils „systemverträglicher“ Inhalt unterstellt, der mit dem historischen Normzweck nichts mehr zu tun habe. Solcherart schaffen die Richter das Recht, welches sie anwenden, gleich selber (eine Kritik an der Detailfreude vieler höchstgerichtlicher Entscheidungen in Deutschland, insb jener des Bundesverfassungsgerichts). Dazu kommt noch (wohl auch in Österreich!) das Problem des Weiterreichens ungelöster Wertungskonflikte durch den Gesetzgeber an die Justiz.
Nach der aktuellen Diagnose des Vortragenden befinden wir uns derzeit in der Phase eines „Herzflimmern des Rechtssystems“, gekennzeichnet von normativen Parallelwelten zwischen EU, deren Mitgliedsstaaten und Untergliederungen, sowie zwischen verschiedenen Rechtsgebieten. Die Wissenschaft habe sich daraus verabschiedet, Defizite in der Durchsetzung führen zur Erosion ganzer Rechtsgebiete, und Kompromissformeln auf der Ebene der Normsetzung verschieben harte Entscheidungen in den Vollzug bzw die Judikatur. Letztlich werde nicht mehr zwischen Sein und Sollen unterschieden.
Demgemäß ist der Ausblick eher düster: Droht uns die Automatisierung des Rechtssystems oder doch ein völliger Zusammenbruch?
Univ.-Prof. Dr. Nikolaus Forgó ist österreichischer Rechtswissenschaftler. Er lehrt und forscht auf dem Gebiet des Römischen Rechts und der Rechtsinformatik und ist gegenwärtig vorrangig in Hannover und Wien tätig.
Dr. Wolfgang Helm ist Richter am Verwaltungsgericht Wien