Erschüttert Luxemburger Entscheidung Grundrechtssystem in Europa?

EuGH forciert die direkte Anwendung der Grundrechtscharta – ohne Rücksicht auf entgegenstehendes nationales (Verfassungs) Recht

In einem richtungsweisenden Urteil vom 26. Februar 2013 ( Rechtssache C-617/10) hat sich der Europäische Gerichtshof ausführlich mit der Frage der direkten Anwendbarkeit von Bestimmungen der Europäischen Grundrechtscharta durch Gerichte auseinandergesetzt.

Der EuGH hat in diesem Urteil festgehalten, dass ein nationales Gericht, das einen Widerspruch von nationalem Recht zur GRC ortet, „gehalten (sei), für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede (. . .) entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste“.

„Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufgestellte Grundsatz ne bis in idem hindert einen Mitgliedstaat nicht daran, zur Ahndung derselben Tat der Nichtbeachtung von Erklärungspflichten im Bereich der Mehrwertsteuer eine steuerliche Sanktion und danach eine strafrechtliche Sanktion zu verhängen, sofern die erste Sanktion keinen strafrechtlichen Charakter hat, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist.

2.      Das Unionsrecht regelt nicht das Verhältnis zwischen der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und bestimmt auch nicht, welche Konsequenzen ein nationales Gericht aus einem Widerspruch zwischen den durch diese Konvention gewährleisteten Rechten und einer nationalen Rechtsvorschrift zu ziehen hat.

Das Unionsrecht steht einer Gerichtspraxis entgegen, die die Verpflichtung des nationalen Gerichts, Vorschriften, die gegen ein durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiertes Grundrecht verstoßen, unangewendet zu lassen, davon abhängig macht, dass sich dieser Verstoß klar aus den betreffenden Rechtsvorschriften oder der entsprechenden Rechtsprechung ergibt, da sie dem nationalen Gericht die Befugnis abspricht – gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof der Europäischen Union – die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit der Charta umfassend zu beurteilen.“

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