Internationales Seminar zur richterlichen Urteilsbegründung in Manchester

VEVawj_logoAm 19. und 20. Juni 2014 veranstaltete die Europäische Verwaltungsrichtervereinigung (VEV) gemeinsam mit der „United Kingdom Association of Women Judges“ ein Seminar zum Thema: „Judgment Writing: Challenges and Comparisons in Contemporary Europe“.

Ziel der Veranstaltung war es, die Arbeits- und Herangehensweisen der Richter bei der Urteilsbegründung in den verschiedenen Rechtskulturen darzustellen. Veranstaltungsorte waren das „Immigration and Asylum Tribunal“ bzw das „Civil Justice Centre” in Manchester.

von Gudrun Müller

„Civil Justice Centre” in Manchester
„Civil Justice Centre” in Manchester

Mr Justice Bernhard McCloskey, President des UK Upper Tribunal, Immgration and Asylum Chamber, referierte zum Thema: “Cur. Ad. Vult. Reserve thy judgment – The Judge in the common law System” und führte aus, dass unter dem lateinischen Fachbegriff „Curia advisari vult“ gemeint ist “the Court wishes to consider the matter” (wörtlich: “the courts wishes to be advised”).“

Darunter wird das für das englische Common Law System typische „reserved judgement“ verstanden, das heißt, dass in solchen Fällen das Gericht den Fall (erneut) beurteilen will und sich ein Urteil vorbehält und nicht sogleich mündlich verkündet. Er führte – vor allem aus der Perspektive Nordirlands – aus, dass Latein für die präzise Formulierung immer wichtig war, jetzt jedoch nicht mehr Voraussetzung für das Jusstudium ist. Zu diesem Thema stellen sich zwei wesentliche Fragen:

1. Für welche Zielgruppe wird die Entscheidung geschrieben, an wen ist diese direkt oder indirekt gerichtet?
2. Was ist notwendig, um die Entscheidung zu verstehen und verständlich zu machen?

McCloskey betonte, dass die Entscheidungen nicht für Rechtsanwälte geschrieben werden, die die Gebühren in dem Verfahren verzeichnen, und stellte in Frage, ob lateinische Fachwörter noch in einer modernen Entscheidung Platz haben sollen. Festzuhalten ist, dass die Entscheidung mit einem klaren und unmissverständlichen Inhalt in einer übersichtlichen Form/Struktur geschrieben werden sollte. Er betonte dabei auch: „We are paid for opinions, not for doubts” und “Brevity is the soul of wits”. Oft ist ein überlanges oder zu langes Urteil leichter zu schreiben, wobei es jedoch sinnvoll erscheint, dieses kürzer und knackiger zu formulieren und auf den Punkt zu bringen. Auch die gewählte Struktur dient oft nicht der Unterstützung, sondern erschwert das Verständnis. Er meinte, es wäre sinnvoll, für das Schreiben einer Entscheidung Anleitung beim Pferdereiten zu nehmen: Gekonnt/geschickt das Pferd ohne große Mühe/Anstrengung zu reiten.

Annika Sandstrom, Verwaltungsrichterin aus Schweden, berichtete über „Judgment Writing from the Citizen’s Perspective“ und über die Umfragen, welche Körperschaften, insbesondere das Gerichtssystem, Vertrauen bei der Bevölkerung genießen. Es wurde weiter befragt, wie die Bevölkerung zu den Entscheidungen der Gerichte beurteilt: Aufgrund der Verwendung schwieriger Wörter würden nur die Hälfte der Bevölkerung die Urteile verstehen. Notwendig wäre eine klare Struktur mit Überschriften, Zusammenfassungen, mehr Absätze, keine überkommenen oder veralteten Ausdrücke oder juristische Fachausdrücke zu verwenden, das Urteil kurz zu fassen, die Begründung jedoch ausreichend und nicht zu kurz ausführen.

Es stellt sich bei den Richterinnen und Richtern immer wieder die Frage, ob sie nicht für die nächste Instanz die Urteile schreiben, damit diese die Urteile nicht in Frage stellt sondern bestätigt. Da in Schweden alle Gerichte an dasselbe Computersystem angeschlossen sind, kommt es vor, dass beim Schreiben des Urteils bereits Formulierung vom Computer vorgeschlagen werden, die dann auch verwendet wird. Aufgrund der Umfragen war jedoch klar, dass der Hauptkritikpunkt die Länge der Urteile war. Sie wies schließlich auf eine Checkliste zum Urteilschreiben eines Gerichts hin, anhand der das geschriebene Urteil noch einmal analysiert bzw. adaptiert werden könnte:

1. Habe ich mich klar und modern ausgedrückt?
2. Ist die gewählte Struktur hilfreich?
3. Sind die relevanten Fragen klar umschrieben?
4. Ist die Begründung für und gegen klar dargestellt?
5. Habe ich alle Ansprüche und Argumente behandelt?

Schließlich berichtete sie auch von der offenen Herangehensweise, Linguisten oder Schulen bei der Urteilsabfassung einzubinden, um bessere Entscheidungen zu schreiben.

Judge Mark Ockelton, Vizepräsident vom UK Upper Tribunal, Immigration and Asylum Chamber, berichtete von „the Whips and Scorns of Modern Judgment Writing“. Er klärte, dass in dem Vereinigten Königreich Tribunale als Überprüfung nach einem Rechtsmittel als nicht-unabhängige Institution, anders als etwa ein Gericht, vorgesehen sind. 2007 wurden zwei Instanzen von Tribunalen eingeführt: First Tribunal und Upper Tribunal, wobei Tribunal wie ein Junior Court gesehen werden könnte: Die Richter sind unabhängig und werden vom Justizministerium bezahlt. Das Verfahren ist weniger formal als ein Gerichtsverfahren. Die Entscheidungen werden grundsätzlich schriftlich ohne eine Anhörung durchgeführt. Die Beweiswürdigung muss dem Antragsteller zuvor schriftlich mitgeteilt werden, bevor eine Entscheidung getroffen werden darf.

Er betonte, dass sich seiner Meinung nach die Entscheidung an den Verlierer des Verfahrens richten sollte, um diesem zu erklären, warum er verloren hat. Der Gewinner des Verfahrens würde sich für das Urteil weniger interessieren, da er eben gewonnen habe. Es müsse vielmehr dem Verlierer erklärt werden, warum das Gericht diesem nicht helfen konnte, wobei er betonte, dass diese Formulierung, „the court was unable to help“ deshalb wichtig sei, damit der Verlierer das Urteil akzeptieren könne. Des weiteren müsse das wichtigste in den ersten Absätzen geschrieben werden und nicht erst irgendwann später. Man müsse auch nichts Allgemeines in das Urteil schreiben, da dies ohnehin den Parteien bekannt sei und daher unnötig.

Schließlich berichtete Judge Hannele Klemettinen aus Finnland, dass es auch dort unüblich sei, zu verhandeln und die Urteile schriftlich gefällt werden.

An die Vorträge schloss sich eine allgemeine Diskussion über die unterschiedlichen Verwaltungsgerichtssysteme und Bestellungsvoraussetzungen von Verwaltungsrichtern in den verschiedenen Ländern an.

Gudrun Müller ist Richterin des Verwaltungsgerichtes Wien

 

 

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