
Viele Beispiele aus dem Ausland zeigen, dass Gerichte autoritären Populisten bei der Umsetzung ihrer Strategie ein Hindernis aber auch hilfreich sein können. Wie kann die Justiz bei der Ausübung ihrer Kontroll- und Rechtschutzfunktion blockiert und behindert werden? Welche Schwachstellen gibt es bei der Gerichtsorganisation und beim Gerichtspersonal? Wie resilient sind die deutschen Verfassungsgerichte? Diesen Fragen geht ein Forschungsprojekt in Deutschland zur Unabhängigkeit der Justiz nach.
Was passiert, wenn Gerichtsentscheidungen von den Behörden nicht umgesetzt werden? Abgesehen von den Bürgern können auch die Behörden die institutionelle Autorität von Gerichten schnell in Frage stellen und den Rechtsstaat gefährden. Beiträge zur Abnahme des Vertrauens sowie der Reputation des Rechtsstaats und des Rechtsschutzsystems können auch von der Politik geleistet werden, indem grundsätzlich abwertend über Gerichte und deren Entscheidung geredet wird oder deren Legitimation bezweifelt wird, insbesondere als nicht demokratisch. Die Unabhängigkeit der Justiz wird beschädigt, wenn Politiker Delegitimierungskampagnen betreiben und „demokratisch legitimierte“ Gerichtsentscheidungen einfordern, um ihre eigene Agenda umzusetzen. Hat Recht der Politik zu folgen oder doch umgekehrt? Oder wenn Politiker Gerichte als „Scheißgerichte“ beschimpfen oder Richter als Lobbyisten diffamieren? Damit zeigt sich auch die Wichtigkeit der Unabhängigkeit der Richter:in und ihrer Präsident:innen, dass diese nicht Parteipolitik umsetzen.
Der Verfassungsblog hat bereits durch „Das Thüringen-Projekt“ im vergangenen Jahr Einfallstore autoritärer Populisten in einem Bundesland analysiert und ist der Frage nachgegangen: Was wäre, wenn autoritäre Kräfte an staatliche Machtmittel kommen? Wo sind Einfallstore, durch die Autoritäre an die Macht gelangen und sie ausbauen könnten, unter anderem in der Bildung, im Parlament, bei Medien und im Kulturbereich? Wie resilient ist die Demokratie in Thüringen? Im Sommer 2024 wurden die Ergebnissen des Thüringen-Projekts und konkreten Handlungsempfehlungen für den Thüringer Landtag veröffentlicht. Nun wird das Projekt auf ganz Deutschland und damit auf die anderen Bundesländer und den Bund ausgedehnt zur Frage: Wie verwundbar ist die deutsche Justiz? Unter Leitung von Friedrich Zillessen werden in Deutschland dazu zunächst die 16 Landesverfassungsgerichte im Fokus der Analyse stehen.
Mit dem Projekt wird versucht, vorauszuschauen und jetzt schon zu antizipieren, wie die Justiz angegriffen werden könnte. Werden im Vorhinein Schwachstellen und Angriffspunkte erkannt, kann entsprechend vorgebeugt werden. Klar muss sein, dass das Recht allein nicht gegen autoritäre Bedrohungen schützen kann.
Um ein Gericht zu schwächen oder auszuhebeln waren in Europa und in den USA bereits verschiedene Strategien zu erkennen:
„Court Packing“ ist der Versuch, die Gerichte mit eigenen Leuten zu besetzen.
„Court Curbing“ oder „Court Stripping“ ist der Versuch, Gerichte zu neutralisieren: Wie kann man ihnen Ressourcen nehmen oder ihren Prüfungsumfang einschränken? Die meisten denken dabei an Polen und Ungarn, aber in jüngster Vergangenheit wurde das auch in Ländern wie Israel und Mexiko versucht.
Weiters werden auch gegen die Strategie der Zerstörung von innerhalb des Gerichts Gegenmechanismen überlegt: Was passiert, wenn in einem Verfassungsgericht jemand sitzt, dem man nicht vertrauen kann, der die Beratungskultur, die diese Gerichte häufig ausmacht, stört. Wenn man also nicht mehr sicher sein kann, dass Informationen nicht nach außen dringen, wenn beraten wird.
Der Ernennungsprozess als Richter:in, der Ablauf von Disziplinarverfahren, die Dienstbeurteilungen bzw. Beförderungen sind ebenso zu überprüfen, wie die restliche Gerichtsorgansiation, um zu sehen, wie auf die Geschäftsverteilung Druck oder Einfluss genommen werden kann. Wie kann die Zuständigkeit beeinflusst werden, um eine:n bestimmte:n Richter:in (un-)zuständig zu machen?
Wie können Gerichte vor Massenbeschwerden geschützt werden, dass sie nicht untergehen und Mechanismen eingeführt werden, um effizient die Verfahren abzuwickeln?
Bisher wurden drei Episoden der Autokratisierung analysiert: Die erste rund um den zweiten Weltkrieg, die zweite während der 1960er- und 1970er-Jahre und schließlich die dritte Welle ab etwa dem Ende des Kalten Krieges. Das Ausmaß dieser Episoden ist jedoch zunehmend bedrohlich und in immer mehr Ländern wahrzunehmen: Während des gesamten 20. Jahrhunderts waren nie so viele Länder gleichzeitig einem Prozess der Autokratisierung unterworfen wie im Jahr 2021. Die gegenläufige dritte globale Welle der Demokratisierung und die Anzahl der Länder, die sich in einem Demokratisierungsprozess befinden, sind eher klein und haben eine geringe Wirtschaftskraft.
Die heutigen Autoritären haben erkannt, dass man viel effektiver und nachhaltiger mit den alten Spielregeln arbeiten kann. Man versucht, die Demokratie aus den Institutionen heraus zu schwächen und dabei den Anschein von Rechtmäßigkeit und Demokratie zu behalten. Das bringt einen Glaubwürdigkeitsvorteil. Damit wird versucht, das Verhalten rechtsförmig aussehen zu lassen. Die Justiz kann dieses vermeintlich rechtsförmige Handeln am ehesten offenlegen und kann daher den autoritären Populisten bei ihrer Machtanmaßung lästig sein. Oder aber es werde die Gerichte als enormes Machtinstrument vereinnahmt und ausgenutzt, weil man sich seine eigene Rechtsrealität schaffen kann.
In Österreich ist bislang kein derartiges Projekt bekannt und ist zu hoffen, dass dies nun mit der neuen Regierung initiiert und gefördert wird. Verfassungsgerichtshofspräsident Grabenwarter hat Anfang des Jahres festgehalten, dass er zusätzliche Garantien für den Verfassungsgerichtshof „sehr begrüßen“ würde. Die im Februar veranstaltete Tagung „Die Resilienz der österreichischen Bundesverfassung“ an der Universität Salzburg sollte als Appell gesehen werden, sich genauer mit der Resilienz der Justiz in Österreich auseinanderzusetzen und tatsächlich Schwachstellen im Justizsystem zu lokalisieren und konkrete Empfehlungen zu erarbeiten.
Hier geht’s zum vom Verfassungsblog initiierten Forschungsprojekt: Das Justiz-Projekt
Hier geht’s zum gesamten Artikel in der Zeit: Justiz: „Auch deutsche Regierende haben Gerichtsentscheide schon ignoriert“
Hier geht’s zum Forschungsprojekt Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung: Autokratisierung und ihre Folgen
Hier geht’s zum Beitrag im Standard Präsident Grabenwarter würde zusätzliche Garantien für Verfassungsgerichtshof „sehr begrüßen“