Der digitale Überwachungsstaat (3): Am Beispiel der EU-Agenturen

Mit der Corona-Pandemie hat auch Europa sein Rendezvous mit digitalen Überwachungsmethoden. Ein im letzten Monat veröffentlichter Artikel des Londoner „Bureau of investigative Journalism“ zeigt auf, dass die dabei angewandten Techniken im Auftrag bzw. mit Hilfe von EU-Agenturen bei der Bekämpfung der Migrationskrise entwickelt wurden.

„Migration Radar 2.0.“

In Italien haben Social-Media-Monitoring-Unternehmen Instagram durchsucht, um herauszufinden, wer die landesweite Sperre durchbricht. Ähnlich wie in Österreich hat auch im Vereinigten Königreich die Regierung Mobilfunkbetreiber gebeten, die aggregierten Standortdaten der Telefonanwender zu teilen, um „bei der breiten Vorhersage zu helfen, wie sich das Virus bewegen könnte“.

Die Idee, mit Hilfe der Technik bestimmte „Hotspot-Aktivitäten“ zu identifizieren, geht auf zwei von der Europäische Agentur für Grenzschutz (FRONTEX) und dem Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) entwickelte Projekte zurück, bei denen die Weltraumagentur ESA zusammen mit privaten Unternehmen ein Programm mit dem Titel „Migration Radar 2.0.“ entwickeln sollte. Geplant war die die Zusammenführung von Bewegungsdaten von Smartphone-Nutzern, die Auswertung von Social-Media-Daten von Personen, die sich auf der Flucht befinden und Satellitendaten.

Die Analyse von Social-Media-Daten, – etwa durch Auswertung von Suchbegriffen auf Plattformen wie Twitter, Facebook, Instagram und YouTube – sollte dabei ein besseres Verständnis des Verhaltens und der Empfindungen von Massen an einem bestimmten geographischen Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt ermöglichen. Die Suche umfasste eine breite Palette von Sprachen, darunter Arabisch, Paschto, Dari, Urdu, Tigrinya, Amharic, Edo, Pidgin Englisch, Russisch, Kurdisch, Hausa und Französisch. In Kombination mit einer kontinuierlichen Überwachung aus dem Weltraum wäre ein „Frühwarnsystem“ entstanden, das potenzielle zukünftige Bewegungen sowie Informationen über die Zusammensetzung dieser Bewegungen in Bezug auf Herkunft, Alter, Geschlecht bietet.

Europäische Datenschutzbehörde schreitet ein

Die EU-Agenturen waren mit diesen Projekten aber in Konflikt mit der europäischen Kontrollbehörde für Datenschutz (EDSB) geraten, insbesondere wegen der Auswertung von Social-Media-Inhalten. „Es geht um die Verwendung personenbezogener Daten in einer Weise, die über ihren ursprünglichen Zweck, ihren ursprünglichen Kontext der Veröffentlichung hinausgeht und in einer Weise, die Einzelpersonen nicht vernünftigerweise vorhersehen konnten. Dies kann eine erschreckende Wirkung auf die Fähigkeit und die Bereitschaft der Menschen haben, sich auszudrücken und Beziehungen frei zu bilden“ stellte die Datenschutzbehörde in einer Bewertung fest, die schließlich zum Abbruch dieser Projekte führte.

Auch wenn die Umsetzung dieser Projekte gestoppt wurde, zielt eine neue Partnerschaft zwischen der ESA und dem Privatunternehmen GMV – „Bigmig“ – darauf ab, „Migrationsmanagement und Prävention“ durch eine Kombination von Satellitenbeobachtung und maschinellem Lernen zu unterstützen. Und ein Konsortium aus Universitäten und privaten Partnern hat aktuell ein EU-finanziertes Projekt mit dem Namen „Hummingbird“ ins Leben gerufen, um die Vorhersagen von Migrationsmustern zu verbessern, u. a. durch die Analyse von Telefongesprächen, Satellitenbildern und sozialen Medien.

Anachronistisches Verständnis von Privatsphäre?

„Mobiltelefone, Satelliten und soziale Medien sind die heilige Dreifaltigkeit der Bewegungsvorhersage“, wird Linnet Taylor, Professor am Tilburg Institut für Recht, Technologie und Gesellschaft in den Niederlanden zitiert, der die Auswirkungen solcher neuer Datenquellen auf die Privatsphäre untersucht hat. Und: Diese Art der Datenverarbeitung wirft rechtlich komplizierte Fragen auf. Das europäische Datenschutzrecht – die DSGVO – untersagt zwar generell die Verarbeitung von „besonderen Kategorien personenbezogener Daten“ einschließlich Ethnizität, Überzeugungen, sexueller Orientierung, Biometrie und Gesundheit, erlaubt eine solche Verarbeitung aber in einer Reihe von Ausnahmefällen – unter anderem in Notfällen im Bereich der öffentlichen Gesundheit.

Und so wurden in der Corona-Krise die zur Bewältigung der Migrationskrise entwickelten Werkzeuge plötzlich zur Bekämpfung der Pandemie in die Diskussion gebracht. „Mit unserer mobilen Technologie haben wir das Potenzial, Modelle zu bauen, die helfen, weithin vorherzusagen, wie sich das Virus bewegen könnte“, sagte ein O2-Sprecher im März in London. Und auf einem Gipfel in der Downing Street am 11. März fragte der Regierungsberater Dominic Cummings Technologiefirmen, „was [sie] an den Tisch bringen könnten“, um den Kampf gegen Covid-19 zu unterstützen.

Während die Sensibilität personenbezogener Daten offensichtlich ist, können die Kombinationen scheinbar unabhängiger Daten, die Einblicke darüber bieten, was kleine Gruppen von Menschen tun, schwer vorhersehbare und kaum zu verhindernde Folgen haben. Und es gibt die Befürchtung, dass der Begriff der Privatsphäre, wie er im neu geprägten Datenschutzrecht verankert ist, anachronistisch sei. Nathaniel Raymond, Dozent am Yale Jackson Institute for Global Affairs, sieht das so: „Die DSGVO ist bereits tot, ausgestopft und an die Wand genagelt. Wir erhöhen unsere Verwundbarkeit unter dem Deckmantel des Gesetzes.“

Hier den Artikel des „Bureau Of Investigative Journalism“ auf Deutsch lesen (automatisierte Übersetzung) …

Hier den Beitrag im Original lesen …

Siehe dazu auch: Der digitale Überwachungsstaat – am Beispiel China

Und: Der digitale Überwachungsstaat – am Beispiel USA

Teilen mit: