EuGH: Auch arbeitsloser Selbstständiger behält Aufenthaltsrecht

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Einem Unionsbürger, der nach mehr als einem Jahr eine Erwerbstätigkeit als Selbständiger in einem anderen Mitgliedstaat wegen eines Mangels an Arbeit, der auf von seinem Willen unabhängigen Gründen beruht, aufgegeben hat, bleibt die Eigenschaft eines Selbständigen und infolgedessen ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat erhalten. Das geht aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 20.12.2017, C-442/16, hervor.

Auslegung der Freizügigkeitsrichtlinie

Der Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) hat sich mit einem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gewandt und wollte wissen, ob der Ausdruck „unfreiwillige Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung“ in der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) ausschließlich Personen erfasst, die unfreiwillig arbeitslos geworden sind, nachdem sie einer mehr als einjährigen Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer nachgegangen sind, oder auch diejenigen Personen, die sich in einer vergleichbaren Situation befinden, nachdem sie eine mehr als einjährige selbständige Tätigkeit ausgeübt haben.

Der Gerichtshof stellte fest, dass zwischen den verschiedenen Sprachfassungen der Richtlinie Abweichungen bestehen. In einigen Sprachfassungen wird im Kern auf die Ausübung einer Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer Bezug genommen, während der Unionsgesetzgeber in anderen eher die neutrale Formulierung „Berufstätigkeit“ verwendet.

Der Gerichtshof erinnert daran, dass im Fall von Abweichungen zwischen den verschiedenen Sprachfassungen eines Rechtsakts die betreffende Vorschrift nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck des Rechtsakts ausgelegt werden muss.

Richtlinie unterscheidet nicht zwischen selbstständiger und unselbstständiger Tätigkeit

Insoweit weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass mit der Richtlinie die Bedingungen festgelegt werden sollen, unter denen Unionsbürger das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen. Zu diesem Zweck unterscheidet die Richtlinie u. a. die Situation der wirtschaftlich tätigen Bürger von der Situation der nicht erwerbstätigen Bürger und Studierenden. Hingegen trifft sie keine Unterscheidung zwischen im Aufnahmemitgliedstaat unselbständig und selbständig erwerbstätigen Bürgern.

Sodann hebt der Gerichtshof hervor, dass mit der Richtlinie der Ansatz überwunden werden soll, der für die früheren Richtlinien, die u. a. Arbeitnehmer und Selbständige getrennt behandelten, charakteristisch war.

Schließlich würde eine enge Auslegung der fraglichen Bestimmung (d. h. eine Auslegung, die lediglich die Personen erfasst, die eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer ausgeübt haben) nach Ansicht des Gerichtshofs eine unterschiedliche Behandlung von Personen, die eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer nicht mehr ausüben, und Personen, die eine Erwerbstätigkeit als Selbständige aufgegeben haben, einführen, die nicht gerechtfertigt wäre, da sich eine Person, die einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, ebenso wie ein Arbeitnehmer, der unfreiwillig seinen Arbeitsplatz verlieren kann, gezwungen sehen kann, diese Tätigkeit aufzugeben. Diese Person könnte somit in eine vergleichbare schwierige Lage geraten wie ein entlassener Arbeitnehmer.

Eine solche unterschiedliche Behandlung wäre umso weniger gerechtfertigt, als sie dazu führen würde, dass eine Person, die eine mehr als einjährige Erwerbstätigkeit als Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ausgeübt und zum Sozialversicherungs- und Steuersystem dieses Mitgliedstaats beigetragen hat, gleichbehandelt würde wie eine Person, die in diesem Mitgliedstaat erstmals einen Arbeitsplatz sucht, dort nie eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt und nie in das Sozialversicherungs- und Steuersystem des fraglichen Staates eingezahlt hat.

Der Gerichtshof entscheidet daher, dass einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der, nachdem er sich in einem anderen Mitgliedstaat etwa vier Jahre rechtmäßig aufgehalten und als Selbständiger gearbeitet hatte, diese Tätigkeit wegen eines Mangels an Arbeit, der auf von seinem Willen unabhängigen Gründen beruhte, aufgegeben hat, die Eigenschaft eines Selbständigen im Sinne der Richtlinie erhalten bleibt.

Zum Urteil des EuGH vom 20.12.2017, C-442/16

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