Türkei (2): Säuberungswelle macht Justizprojekt zunichte

Im Auftrag des Europarates war Manfred Buric vom Justizministerium in Wien jahrelang damit beschäftigt, das Justizsystem der Türkei zu modernisieren.

Seine Mission als „Resident Expert“ des Europarates begann für den 57-jährigen Österreicher im Jahr 2008 mit einem zwei Jahre dauernden Einsatz in der Türkei. Der Auftrag lautete, eine Studie über die türkische Justiz zu erstellen und Verbesserungsvorschläge zu erarbeiten. Buric stellte gravierende Unterschiede zu europäischen Staaten fest. Das beginne schon beim Vorstellungsgespräch. Chef der Justizverwaltung ist der leitende Staatsanwalt, der Gerichtspräsident kommt erst an zweiter Stelle.

Fehlender Instanzenzug

Es gibt nur zwei Ebenen. Wenn sich ein Hühnerdieb ungerecht behandelt fühlt, muss er sich mit seinem Einspruch direkt an den Obersten Gerichtshof wenden. Das führe dazu, dass täglich bis zu 15.000 Personen das Gebäude des Obersten Gerichtshofes in Ankara aufsuchen. Unter diesen Umständen seien kaum ordentliche Verfahren zu erwarten.

Praxisferne Richterausbildung

Ein weiterer Schwachpunkt sei die Richterausbildung. Die Rechtspraktikanten verbringen den Praxisteil drei Jahre lang philosophierend in Teehäusern, weil sie in keinen Akt sehen dürfen. Ohne jede praktische Erfahrung sind sie dann plötzlich Richter, die bis zu fünfjährige Freiheitsstrafen verhängen dürfen. Eine Praktikantin gestand offen ein: „Manfred, ich habe Angst davor. Weil ich weiß ja gar nicht, wie so ein Verfahren abläuft.“

Unattraktiver Osten

Schlecht bestellt sei es auch um die Unabhängigkeit der Richter. Absolut uneuropäisch sind vor allem die Beförderungsrichtlinien. Wer zu viele Rückweisungen seiner Urteile durch den Obersten Gerichtshof bekommt, dessen Karriere bleibt stecken. Buric stellte eine „natürliche Ost-West-Wanderung“ der Richter fest. Die Jungen sitzen im unattraktiven Osten. Je weiter man nach Westen kommt, umso älter werden die Richter. Denn dort befinden sich die hochwertigen Dienstposten. Ausnahmen bilden eben nur jene, die zu viele Rückweisungen hatten.

Buric beschrieb die Stimmung unter seinen türkischen Kollegen als durchaus aufgeschlossen. Sie akzeptierten auch widerstandslos seinen Vorschlag, fünf Pilotgerichte einzurichten. Gerichte, wo Menschen nicht mehr in die Zimmer der Richter stürmen müssen, sondern wo sie ihre Anliegen schon an einer Empfangsstelle abgeben können. Und Gerichte, wo die Rechtspraktikanten auch tatsächlich in die tägliche Arbeit eingebunden werden. Auf den Erfahrungsbericht Burics ist es zurückzuführen, dass die EU in einem Zwischenbericht zumindest „positive Schritte“ bei der Justizreform anerkannte.

Sein letzter Einsatz war 2014 die Evaluierung der Pilotgerichte, die sich nach seinem Befund gut entwickelt hatten. Doch seit dem Beginn von Erdogans Säuberungswelle interessiert sich kein Mensch mehr für das Modernisierungsprojekt. Die türkischen Kollegen haben jetzt andere Sorgen. Sie gehen nicht nur hinter Gitter. Erdogan lässt auch alle ihre Vermögenswerte wie Immobilien, Bankkonten und Autos beschlagnahmen.

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