Wird einem EU-Bürger die Einreise in einen Mitgliedstaat aus Gründen der öffentlichen Sicherheit verboten, müssen ihm jedenfalls die wesentlichen Gründe dafür mitgeteilt werden, um sein Recht auf effektiven Rechtsschutz zu wahren. Dies hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 04.06.2013 entschieden. Ein Mitgliedstaat kann es nur im Rahmen des «unbedingt Erforderlichen» ablehnen, dem Betroffenen Gründe mitzuteilen, deren Offenlegung die Sicherheit des Staates beeinträchtigen könnte (Az.: C-300/11).
Im Vereinigten Königreich können gegen EU-Bürger aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erlassene Einreiseverbote bei der Special Immigration Appeals Commission (Sonderkommission für Rechtsbehelfe in Einwanderungssachen, SIAC) angefochten werden. Im Rahmen des Verfahrens vor der SIAC haben weder der Kläger noch seine persönlichen Rechtsanwälte Zugang zu den Informationen, auf die die Entscheidung gestützt wurde, wenn ihre Offenlegung dem öffentlichen Interesse widerspräche. In einem solchen Fall wird jedoch ein spezieller Anwalt bestellt, um die Interessen der betroffenen Person vor der SIAC zu vertreten. Dieser darf allerdings ab dem Zeitpunkt, zu dem ihm Material zugänglich gemacht wird, dessen Offenlegung der Secretary of State widerspricht, nicht mehr mit dem Betroffenen über mit dem Verfahren zusammenhängende Fragen kommunizieren. Er kann jedoch bei der SIAC Verfügungen beantragen, mit denen eine entsprechende Kommunikation gestattet wird.
Der Kläger des Ausgangsverfahrens besitzt die französische und die algerische Staatsangehörigkeit. Er ist seit 1990 mit einer britischen Staatsangehörigen verheiratet, mit der er acht Kinder hat. Von 1990 bis 2005 war er rechtmäßig im Vereinigten Königreich wohnhaft. Nachdem er das Vereinigte Königreich verlassen hatte, hob der Secretary of State jedoch im August 2005 sein Aufenthaltsrecht mit der Begründung auf, dass seine Anwesenheit dem öffentlichen Interesse zuwiderlaufe. Im September 2006 reiste der Kläger in das Vereinigte Königreich, wo der Secretary of State ihm die Einreise verbot. Gegen das Einreiseverbot erhob der Kläger bei der SIAC Klage. Im Rahmen des entsprechenden Verfahrens konnte er mit seinen beiden speziellen Anwälten nur über öffentliche Beweise sprechen.
Die SIAC wies die Klage ab und erließ ein «vertrauliches» Urteil mit einer umfassenden Begründung und ein «öffentliches» Urteil mit einer Zusammenfassung der Begründung. Dem Kläger wurde nur das Letztere übermittelt. Aus dem «öffentlichen Urteil» geht hervor, dass die SIAC aus Gründen, die in dem «vertraulichen Urteil» erläutert werden, überzeugt ist, dass der Kläger an terroristischen Tätigkeiten in den Jahren 1995 und 1996 beteiligt gewesen sei. Der Kläger legte gegen das Urteil der SIAC Berufung beim Court of Appeal (England & Wales) ein. Dieser rief den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren an.
Der EuGH führt aus, dass dem Betroffenen nach Art. 30 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 die Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die der entsprechenden Entscheidung zugrunde liegen, genau und umfassend mitzuteilen seien, es sei denn, dass Gründe der Sicherheit des Staates dieser Mitteilung entgegenstünden. Die Mitgliedstaaten müssten eine wirksame gerichtliche Kontrolle nicht nur der Begründetheit der Entscheidung über das Einreiseverbot gewährleisten, sondern auch der Stichhaltigkeit der Gründe der Sicherheit des Staates, die geltend gemacht werden, um dem Betroffenen die Mitteilung der Entscheidungsgründe zu verweigern. Das für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Einreiseverbots zuständige Gericht müsse daher von allen Entscheidungsgründen und den entsprechenden Beweisen Kenntnis nehmen können. Außerdem müsse gerichtlich überprüft werden, ob die Gründe im Zusammenhang mit der Sicherheit des Staates der Offenlegung dieser Gründe und Beweise entgegenstehen.
Das weitere Verfahren hängt nach den Ausführungen des EuGH vom Ergebnis der Prüfung des nationalen Gerichts ab: Komme dieses zu dem Schluss, dass die Sicherheit des Staates es nicht verwehrt, dass die Gründe für das Einreiseverbot genau und umfassend mitgeteilt werden, räume es der zuständigen nationalen Behörde die Möglichkeit ein, dem Betroffenen die fehlenden Gründe und Beweise mitzuteilen. Erlaube die Behörde die Mitteilung nicht, prüfe das Gericht die Rechtmäßigkeit der entsprechenden Entscheidung allein anhand der mitgeteilten Gründe und Beweise. Zeige sich dagegen, dass die Sicherheit des Staates der Mitteilung der entsprechenden Gründe an den Betroffenen tatsächlich entgegensteht, müsse die gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Entscheidung über das Einreiseverbot im Rahmen eines Verfahrens erfolgen, das das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und die Notwendigkeit, den Schutz der Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats zu gewährleisten, in angemessener Weise zum Ausgleich bringt und dabei die eventuellen Eingriffe in die Ausübung dieses Rechts auf das unbedingt Erforderliche begrenzt.
Dieses Verfahren müsse so weit wie irgend möglich die Wahrung des Grundsatzes des kontradiktorischen Verfahrens sicherstellen. Die Betroffenen müssten die Entscheidungsgründe angreifen, zu den entsprechenden Beweisen Stellung nehmen und somit ihre Verteidigungsmittel sachdienlich geltend machen können. Insbesondere müsse dem Betroffenen der wesentliche Inhalt der Gründe für ein Einreiseverbot mitgeteilt werden, da der erforderliche Schutz der Sicherheit des Staates nicht zur Folge haben könne, dass dem Betroffenen sein Recht darauf, gehört zu werden, vorenthalten und damit sein Recht auf einen Rechtsbehelf wirkungslos werde.
Allerdings, so der EuGH weiter, gelte die Abwägung zwischen dem Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und der Notwendigkeit, den Schutz der Sicherheit des fraglichen Staates zu gewährleisten, nicht in gleicher Weise für die Beweise, die den vor dem zuständigen nationalen Gericht geltend gemachten Gründen zugrunde liegen. Denn in bestimmten Fällen könne die Offenlegung dieser Beweise die Sicherheit des Staates insoweit unmittelbar und besonders beeinträchtigen, als sie insbesondere das Leben, die Gesundheit oder die Freiheit von Personen gefährden könnte oder die von den nationalen Sicherheitsbehörden speziell angewandten Untersuchungsmethoden enthüllen und damit die zukünftige Erfüllung der Aufgaben dieser Behörden ernsthaft behindern oder sogar unmöglich machen könnte.