Mehr als 900 Covid-Anträge vor Höchstgericht

85 Prozent sind erledigt – der Verfassungsgerichtshof entschied meist, als die Regelung gar nicht mehr in Kraft war.

Lockdown für Ungeimpfte, 2G-Regel, Ausgangsbeschränkungen und Betretungsverbote, zuletzt die Finanzhilfen: Österreichs Verfassungsgerichtshof (VfGH) ist seit Beginn der Covid-19-Pandemie mit Prüfungsverfahren zu diesem Thema gefordert. Konkret seien seit April 2020 rund 920 Fälle mit Covid-19-Bezug eingegangen, heißt es auf Nachfrage der „Wiener Zeitung“ vom VfGH. 85 Prozent seien bereits erledigt – in nur etwa 15 Prozent der Fälle waren die Antragsteller laut VfGH erfolgreich. Einige Anträge wurden auch aus formalen Gründen zurückgewiesen.

Zu den prominentesten Fällen, in denen erfolgreich im Sinne der Antragsteller entschieden wurde, zählen wohl die Corona-Ausgangs-Verordnung und die 400-Quadratmeter-Verordnung: Diese waren laut VfGH teils gesetzeswidrig. Konkret jene Teile, die das Betreten des öffentlichen Raumes und die Nutzung der Öffis unter nur vier Bedingungen zugelassen haben: zum Zweck der Berufsarbeit, um Hilfe zu holen, um dringende Besorgungen zu erledigen oder Spaziergänge zu unternehmen. Auch die Verpflichtung, Gründe für das ausnahmsweise Betreten des öffentlichen Raumes bei einer Polizeikontrolle glaubhaft zu machen, ging laut VfGH über die vom Gesetz vorgegebenen Grenzen hinaus.

Nach Ostern 2020 war die Öffnung der Geschäfte wieder erlaubt, per Verordnung aber nur bestimmter – und auch das hat der VfGH rückwirkend aufgehoben. Es sei eine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung, dass Geschäfte mit weniger als 400 Quadratmeter Verkaufsfläche und Bau- und Gartenmärkte generell wieder aufmachen durften, das Betretungsverbot für alle anderen größeren Geschäfte aber weiter galt, hieß es. Damit gab der VfGH den Unternehmen Recht, die sich deshalb an ihn gewandt hatten.

Der VfGH hatte über diese Verordnungen im Juli 2020 entschieden – und damit zu einem Zeitpunkt, als sie fast drei Monate lang schon nicht mehr in Kraft waren.

Betretungsverbot rückwirkend gesetzeswidrig

Auch, als der VfGH im August 2022 entschied, dass das pandemiebedingte Betretungsverbot für Kultureinrichtungen gesetzeswidrig war, konnte man diese seit fast einem Jahr schon wieder besuchen. Genau genommen befand der VfGH die damaligen Ausnahmen für Kirchen gleichheitswidrig. Auslöser für das Erkenntnis war ein Antrag mehrerer Kulturschaffender gegen das Betretungsverbot für Kultureinrichtungen. In der Vorwoche hat Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) nun eine neue Covid-19-Basismaßnahmenverordnung erlassen, wonach aufgrund des VfGH-Erkenntnisses „Zusammenkünfte zur Religionsausübung“ nicht mehr generell vom Geltungsbereich der Verordnung ausgenommen sind.

Die beiden Lockdowns für Ungeimpfte vom 15. bis 21. November 2021 und vom 21. bis 30. Jänner 2022 waren indes gesetzeskonform, entschied der VfGH – und zwar im März respektive Mai 2022. Die begleitenden 2G-Regeln, dass nur geimpfte oder genesene Personen Zutritt zu Geschäften oder Gastronomie hatten, waren somit auch gerechtfertigt. Bezüglich des ersten Lockdowns für Ungeimpfte hatte eine Wienerin den Gleichheitssatz verletzt gesehen. Beim zweiten hatte eine Oberösterreicherin argumentiert, dass die Anzahl der Spitalspatienten zurückgegangen sei und die Maßnahmen daher gegen Grundrechte und das Covid-19-Maßnahmengesetz verstießen.

Heftig umstritten war auch die Covid-19-Impfpflicht. Just am selben Tag, an dem der VfGH die Bestimmungen dazu als verfassungskonform erachtete, gab die Regierung bekannt, dass sie nun endgültig abgeschafft wird. Das VfGH-Erkenntnis vom 23. Juni basierte allerdings ohnehin darauf, dass die Impfpflicht nicht angewandt wird. Angesichts der „geltenden Covid-19-Nichtanwendungsverordnung bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die zulässigerweise angefochtenen Bestimmungen“, hieß es. Das Gesetz war zwar am 4. Februar 2022 in Kraft getreten, schlagend wurde es angesichts der epidemiologischen Entwicklung aber nie. Ein Wiener hatte vor dem VfGH vorgebracht, die Impfpflicht verletze das Recht auf Achtung des Privatlebens.

Eilverfahren für Grabenwarter „ohne Vorteil“

Aktuell prüft das Höchstgericht die Corona-Finanzhilfen erneut. Bereits im Dezember 2021 hatte es einen Antrag abgewiesen, laut dem die Einrichtung der Covid-19-Finanzierungsagentur Cofag des Bundes verfassungswidrig gewesen sei. Seit März 2020 gewährt diese Finanzhilfen an Unternehmen, die von der Pandemie betroffen sind. Die Cofag basiert auf dem ABBAG-Gesetz – und über dieses geht es nun beim erneuten Prüfungsverfahren. Anlass sei ein Antrag der Wiener Lokalbahnen Verkehrsdienste GmbH, der sich gegen Bestimmungen in den Richtlinien für die Gewährung eines Fixkostenzuschusses wende, so der VfGH.

In den etwas mehr als zweieinhalb Jahren der Pandemie in Österreich wurden rund 740 mit Covid-19 in Zusammenhang stehende Gesetze und Verordnungen respektive deren Änderungen erlassen. Zuweilen änderte sich die Änderung einer Verordnung nach wenigen Tagen. Ficht jemand eine dieser Bestimmungen an und entscheidet der VfGH, wenn diese schon längst nicht mehr gilt, wird mitunter die Sinnhaftigkeit all dessen in Frage gestellt – und gefordert, dass das Höchstgericht schneller werden muss: Bereits zu Beginn der Pandemie brachten die Neos einen Antrag auf Eilverfahren im Nationalrat ein. Auch der damalige Präsident des Rechtsanwaltskammertages Rupert Wolff plädierte dafür.

Christoph Grabenwarter, Präsident des VfGH, kann diesem aber wenig abgewinnen. „Ich sehe darin keinen spürbaren Vorteil“, schreibt er der „Wiener Zeitung“ auf Nachfrage, denn: Der VfGH sei bereits sehr schnell. Ein Verfahren dauere durchschnittlich vier Monate, pro Jahr seien die Richter mit rund 1.600 Fällen beschäftigt. Eilverfahren, also beschleunigte Verfahren mit endgültiger Entscheidung, gebe es am Europäischen Gerichtshof (EuGH). „Rechtsstaatlich gesehen haben sie den Nachteil, dass den Parteien nur kurze Fristen für schriftliche Stellungnahmen eingeräumt werden; Mitgliedstaaten, die an der Sache nicht beteiligt sind, können gar keine abgeben. Der EuGH entscheidet daher – anders als sonst – auf vergleichsweise schmaler Grundlage.“ Am EuGH dauern die Verfahren laut Grabenwarter generell oft jahrelang.

„Entscheidungen haben politische Auswirkungen“

Sogenannte einstweilige Verfügungen, wie es sie in Deutschland gibt, führten ebenfalls kaum schneller als VfGH-Verfahren zur Entscheidung. Mit diesen kann eine Norm vorübergehend außer Kraft gesetzt werden, bis am Ende eines Verfahrens die eigentliche Entscheidung ergeht. Das deutsche Bundesverfassungsgericht mache von der Befugnis, das Inkrafttreten eines Gesetzes zu verzögern, aber nur mit äußerster Zurückhaltung Gebrauch, so Grabenwarter.

Wenn es in Österreich am VfGH extra schnell gehen muss, dann gehe das auch: Als besonders dringlich gelten Anträge zu Untersuchungsausschüssen sowie allgemein Wahlanfechtungen, erklärt Grabenwarter. Normenprüfungsverfahren, die für die Allgemeinheit von besonderer Bedeutung sind, würden ebenfalls so schnell wie möglich durchgeführt. Dort, wo es im Gesetz eine entsprechende Frist gibt, entscheide der VfGH innerhalb von vier Wochen.

Wäre es dann nicht gleich sinnvoller, dass der VfGH Gesetze prüft, noch bevor sie erlassen werden? Das würde die Grenze zwischen Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit verwischen, meint dazu Grabenwarter. „Durch die Einbeziehung des VfGH in das Gesetzgebungsverfahren käme es zu einer Politisierung des VfGH, die vermieden werden sollte.“ Tatsache sei jedoch, dass rechtliche Entscheidungen, die der VfGH trifft, politische Auswirkungen haben. Das liege im Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Entscheidender Unterschied dabei sei, dass ein Gesetzgebungsverfahren ausschließlich politischen Gesichtspunkten folge, das Verfahren vor dem VfGH hingegen rechts- und gerichtsförmig organisiert sei. „Das bedeutet etwa, dass der VfGH nur auf Antrag tätig werden kann und niemals von sich aus“, so Grabenwarter, „und dass er ausschließlich aufgrund der Bundesverfassung entscheidet.“

Hier geht’s zum Beitrag in der Wiener Zeitung …

Siehe dazu auch: VfGH: Neuerliche Prüfung der Coronahilfen

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