Die Unabhängigkeit der Richter und der Justiz ist bedroht

Kommentar von Dunja Mijatović, Menschenrechtskommissarin des Europarates (Arbeitsübersetzung)

Die Unabhängigkeit der Justiz unterstützt die Rechtsstaatlichkeit und ist für das Funktionieren der Demokratie und die Achtung der Menschenrechte von wesentlicher Bedeutung. Das Grundrecht auf ein „faires Verfahren“ durch ein „unabhängiges und unparteiisches Gericht“ ist in der Europäischen Menschenrechtskonvention, in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und in zahlreichen nationalen und internationalen Rechtstexten verankert. Wir sehen dieses Recht seit langem ohne größere Hindernisse angewendet und wird dies auch in vielen Mitgliedstaaten des Europarats weiter so blieben. Aber wir sehen jedoch immer mehr und beunruhigendere Versuche der Exekutive und der Legislative, ihren Einfluss geltend zu machen, um so die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben.

Seit Beginn meiner Amtszeit beschäftige ich mich mit Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz. Ich habe diese Fragen in vier der neun Länder, die ich bisher besucht habe, in Angriff genommen. In meinem Bericht über Ungarn im vergangenen Februar habe ich nach einem Besuch im Februar Bedenken über die Auswirkungen einer Reihe legislativer Maßnahmen in den 2010er Jahren auf die Befugnisse und die Unabhängigkeit der Justiz in dem Land geäußert. Ich wies nachdrücklich auf die Notwendigkeit hin, die Kontrolle und Gegenkontrolle („checks and balances“) in der Justizverwaltung zu beachten und warnte vor dem Risiko ihrer Politisierung. Meine wichtigste Empfehlung war die Stärkung der kollektiven gerichtlichen Selbstverwaltung.

Im März habe ich in Polen die Justizreform des Landes und eine von der öffentlichen Hand finanzierte Kampagne zur Diskreditierung von Richtern und negativen Aussagen von Beamten zur Sprache gebracht und bin zu dem Schluss gekommen, dass dies erhebliche Auswirkungen auf das Funktionieren und die Unabhängigkeit des Justizsystems des Landes, einschließlich seines Verfassungsgerichts und seines Justizrats, hatte. Ich habe auch die Entlassung, die Ersetzung und die Degradierung von hunderten Gerichtspräsidenten und Staatsanwälten, die Verhängung von Disziplinarverfahren gegen Staatsanwälte und Staatsanwälte sowie die Kombination der mächtigen Funktionen des Justizministers und des Generalstaatsanwalts in den Händen eines aktiven Politikers kritisiert.

In meinem im Februar veröffentlichten Bericht über Rumänien‚ in dem ich u. a. auf die übereilte Reform der Justiz eingegangen bin, betonte ich, wie wichtig es ist, die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren, und appellierte an die Behörden, den Empfehlungen der Venedig-Kommission und von GRECO Wirkung zu verleihen. Ich habe unter mehreren Aspekten auf die Einrichtung einer neuen Abteilung innerhalb des Amtes des Generalstaatsanwalts der Republik Rumänien für die Untersuchung von Straftaten innerhalb der Justiz und die Beschränkungen des Rechts der Richter auf freie Meinungsäußerung aufmerksam gemacht.

Die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz war eines der Themen, die ich während meines jüngsten Besuchs in der Türkei angesprochen habe. Ich war besorgt darüber, dass die Unabhängigkeit der türkischen Justiz während des Ausnahmezustands und in der Folgezeit ernsthaft untergraben wurde. Ich nahm insbesondere Verfassungsänderungen in Bezug auf den Rat der Richter und Staatsanwälte zur Kenntnis, die eindeutig im Widerspruch zu den Normen des Europarats stehen, sowie die Aussetzung der ordentlichen Garantien und Verfahren für die Entlassung, Einstellung und Ernennung von Richtern und Staatsanwälten während des zweijährigen Ausnahmezustands.

Anstatt die Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Effizienz der Justiz zu wahren und zu stärken, greifen einige Regierungen und Politiker in die Justiz ein und greifen sogar auf Drohungen gegen Richter zurück.

In jüngster Zeit hat der italienische Innenminister drei Richter mündlich in sozialen Medien angegriffen und einige von ihnen getroffene Entscheidungen angegriffen, die seiner Meinung nach die zunehmend restriktive Zuwanderungspolitik der Regierung in Frage gestellt haben. Die Medien berichteten über die Morddrohungen, die nach dem Angriff des Ministers in den sozialen Medien gegen diese Richter gestellt wurden. Ein weiterer verbaler Angriff desselben Ministers gegen einen Richter in Bezug auf eine andere Frage veranlasste die Behörden, diesen Richter wegen der sich daraus ergebenden Morddrohungen mit dem Polizeischutz zu versehen.

In Serbien kritisierte der Präsident des Parlaments, mehrere Abgeordnete und der Justizminister während der parlamentarischen Debatte über die Einführung von lebenslanger Haft ohne die Möglichkeit einer bedingten Entlassung für einige der schwersten Straftaten, den Richter des Appellationsgerichts Belgrad, Miodrag Majić, weil er davor gewarnt hatte, dass dieser Legislativvorschlag mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unvereinbar sei. Der Richter war Gegenstand von persönlichen Angriffen, und seine berufliche Qualifikation und die Qualität seiner Arbeit wurden in der Debatte in Frage gestellt, da er sein Recht auf freie Meinungsäußerung nutzte, um seine Meinung zu einem Thema des öffentlichen Interesses im Justizbereich zu äußern. Ich kritisierte auch den oben genannten Legislativvorschlag für seine Unvereinbarkeit mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention in einem Schreiben an die serbischen Behörden vor der oben genannten parlamentarischen Debatte.

Europarat: wichtige Grundsätze in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz

Der wichtigste Text in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz ist die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates (2010) 12 an die Mitgliedstaaten für Richter: Unabhängigkeit, Leistungsfähigkeit und Verantwortlichkeit.

Lassen Sie mich einige der wichtigsten Grundsätze in Erinnerung rufen:

Die Unabhängigkeit der einzelnen Richter wird durch die Unabhängigkeit der Justiz insgesamt gewahrt. Er ist daher ein grundlegender Aspekt der Rechtsstaatlichkeit.

Die Unabhängigkeit der Richter sollte als Garantie der Freiheit, der Achtung der Menschenrechte und der unparteiischen Rechtsanwendung betrachtet werden. Die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit der Richter sind unerlässlich, um die Gleichheit der Parteien vor den Gerichten zu gewährleisten.

Die Unabhängigkeit der Richter und der Justiz sollte in der Verfassung oder auf der höchsten möglichen rechtlichen Ebene verankert werden. Die in diesen grundlegenden Gesetzen vorgesehenen strukturellen Vorkehrungen sollten eine klare Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Exekutive, Legislative und Judikative zeigen.

Die Verfahren zur Ernennung und Beförderung von Richtern sind von entscheidender Bedeutung für den Schutz der Unabhängigkeit der Justiz. Nach den Normen des Europarats sollten nicht weniger als die Hälfte der Mitglieder der Räte für das Justizwesen (die gesetzlich oder verfassungsrechtlich errichtet werden sollen) Richter sein, die von ihren Amtskollegen aus allen Justizebenen und unter Achtung des Pluralismus innerhalb der Justiz ausgewählt werden. Die Beschlüsse über Ernennungen und Beförderungen sollten auf objektiven Kriterien beruhen, die sich auf die beruflichen Qualifikationen und Qualifikationen und nicht auf die politischen Erwägungen der Regierung beziehen.

Ein weiterer wesentlicher Grundsatz ist, dass die Amtszeit der Richter bis zum Eintritt in den Ruhestand gesichert sein sollte – und noch wichtiger –, dass sie nicht die Entlassung für Entscheidungen fürchten müssen, welche nicht auf Zustimmung derjenigen stoßen, die an der Macht sind.

Jeder Richter ist für die Förderung und den Schutz der richterlichen Unabhängigkeit verantwortlich. Richter und die Gerichtsbarkeit sollten konsultiert und an der Ausarbeitung von Rechtsvorschriften über ihr Statut und ganz allgemein an der Funktionsweise des Justizsystems beteiligt werden.

Bei der Kommentierung der Entscheidungen von Richtern sollten die Exekutive und die Legislative sowohl jene Kritik vermeiden, die die Unabhängigkeit oder das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz untergraben könnte, als auch Handlungen vermeiden, die ihre Bereitschaft in Frage stellen könnte, sich an die Entscheidungen der Richter zu halten (abgesehen von ihrer Absicht, Rechtsmittel einzulegen).

Maßnahmen auf europäischer Ebene zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit der Justiz

Auf europäischer Ebene wurden Anstrengungen unternommen, um in einigen Mitgliedstaaten in den letzten Jahren systematischer gegen die Unabhängigkeit der Justiz vorzugehen.

Im Jahr 2016 erließ der Europäische Gerichtshof ein Urteil in der Rechtssache Baka v Ungarn, in dem es um die vorzeitige Abschiebung des Klägers von der Stellung des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs und des nationalen Justizrats ging, da er in seiner beruflichen Eigenschaft die Reform der Justiz in Ungarn kritisierte. Der Gerichtshof stellte u. a. einen Verstoß gegen das Recht des Klägers auf freie Meinungsäußerung fest und hob dabei hervor, dass jeder Richter die Unabhängigkeit der Gerichte zu fördern und zu schützen habe und dass Richter und Richter an der Ausarbeitung von Rechtsvorschriften über ihr Statut und ganz allgemein an der Funktionsweise des Justizsystems beteiligt werden sollten.

Die Parlamentarische Versammlung des Europarats hat sich mit Fragen der Rechtsstaatlichkeit, einschließlich der Unabhängigkeit der Justiz, in ihren Entschließungen befasst, darunter die Entschließung von 2017 zu neuen Bedrohungen der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten des Europarats mit besonderem Schwerpunkt auf der Rechtsstaatlichkeit in Bulgarien, der Republik Moldau, Polen, Rumänien und der Türkei. Zuletzt ging es in einer Entschließung von 2019 zur Ermordung von Daphne Caruana Galizia und der Rechtsstaatlichkeit in Malta u. a. um die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten durch den Premierminister und die Forderung nach einer Reform des Justizsystems, die die Unabhängigkeit der Justiz gewährleistet.

In vielen ihrer Stellungnahmen hat die Venedig-Kommission geprüft, ob die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten die einschlägigen Standards für die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz einhalten. Allein in Bezug auf Ungarn hat die Venedig-Kommission seit 2011 sieben Stellungnahmen zur Rechtsstaatlichkeit, einschließlich der Unabhängigkeit der Justiz, verabschiedet. Sie hat diese Fragen auch in ihren Stellungnahmen zu Bulgarien (2016), Polen (zwei im Jahr 2016 und zwei im Jahr 2017), der Türkei (zwei im Jahr 2017), Rumänien (2018 und 2019), Malta (2018) und Serbien (2018) behandelt. Die Stellungnahmen der Venedig-Kommission und ihre „Rule of Law Checklist“ wurden in großem Umfang verwendet und in dem von der Europäischen Kommission angestrengten Vertragsverletzungsverfahren gegen mehrere im Folgenden genannte Mitgliedstaaten erwähnt.

Die Gruppe der Staaten gegen Korruption (GRECO) ist auch besorgt über die Auswirkungen der Bedrohungen der Unabhängigkeit der Justiz auf die Standards des Europarats zur Bekämpfung der Korruption. So war GRECO in Bezug auf Rumänien zutiefst besorgt über neue Rechtsvorschriften, die Änderungen betrafen: „Die Ernennung und Entlassung von leitenden Staatsanwälten, die funktionale Unabhängigkeit der Staatsanwälte und die persönliche Haftung von Richtern und Staatsanwälten, die zusammengenommen eine ernsthafte Bedrohung für die Unabhängigkeit der Justiz darstellen“. GRECO gelangte zu ähnlichen Schlussfolgerungen in Bezug auf Polen und gelangte zu dem Schluss, dass die kumulative Wirkung der verschiedenen Elemente der Reform die Unabhängigkeit der Justiz des Landes erheblich geschwächt hat, und die Türkei, wo sie feststellte, dass grundlegende strukturelle Veränderungen die Unabhängigkeit der Justiz beeinträchtigen und die Justiz noch weniger unabhängig von Exekutive und politischen Macht erscheinen als zuvor.

Auch die Organe der Europäischen Union befassen sich mit diesen Fragen und haben einige beispiellose Schritte zur Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Grundrechte unternommen. Im Jahr 2018 hat das Europäische Parlament den Rat erstmals aufgefordert, die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Gründungswerte der EU durch Ungarn festzustellen. Zu den wichtigsten Bedenken des Parlaments zählten die Gefahren für die Unabhängigkeit der Justiz. Das Parlament war auch besorgt über die Lage der Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz in Rumänien in einer im November 2018 angenommenen Resolution über die Rechtsstaatlichkeit in diesem Land. Die Europäische Kommission hat Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn und Polen unter Verweis auf Rechtsvorschriften, die die Unabhängigkeit der Justiz untergraben, angewandt.

Weiteres Vorgehen

Diese Entwicklungen zeigen, dass die europäischen Institutionen in diesem Bereich keinesfalls untätig geblieben sind. Einige der oben genannten Schritte waren jedoch längst überfällig.

Wir sollten die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz stärker und entschiedener verteidigen. Indem wir diese Grundsätze verteidigen, verteidigen wir die Menschenrechte. Die Venedig-Kommission wies darauf hin, dass „die Rechtsstaatlichkeit nur eine leere Hülle wäre, ohne den Zugang zu den Menschenrechten zu ermöglichen“.

Die Mitgliedsstaaten des Europarats müssen die europäischen Standards in diesem Bereich uneingeschränkt einhalten und die Unabhängigkeit der Justiz wahren.

Die Kontrolle der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten des Europarats sollte hinsichtlich der Verletzung einschlägiger Normen des Europarats systematischer erfolgen.

Richter müssen in die Ausarbeitung von Rechtsvorschriften, die sie betreffen, und in die Funktionsweise des Justizsystems einbezogen und konsultiert werden.

Richter sollten in den Genuss einer gesicherten Amtszeit und Schutz vor ungerechtfertigter vorzeitiger Entlassung oder unfreiwilliger Versetzung kommen.

Das Recht der Richter, zu Angelegenheiten von öffentlichem Interesse Stellung zu nehmen, sollte gewahrt werden.

Die europäischen Bürger müssen ihre Regierungen zur Rechenschaft ziehen, wenn die Maßnahmen der Regierung die Rechtsstaatlichkeit, die Demokratie und die Menschenrechte untergraben.

Wenn die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Richter untergraben werden, werden die Menschenrechte untergraben.

Hinweis: Der Originalbeitrag wurde unter dem Titel: „Human Rights Comment – The independence of judges and the judiciary under threat” auf der Webseite des Europarates veröffentlicht.

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