Behörden und Gerichte müssen für eine strikte Auslegung des EU-Rechts sorgen. Dieselfahrer dürften das Nachsehen haben.
Der Europäische Gerichtshof hat mit seinem Urteil in der Rechtssache C-723/17 die Rechte der Bürger gestärkt, die unter zu hoher Schadstoffbelastung leiden. Anwohner von viel befahrenen Straßen können nun leichter dagegen klagen, wenn Messwerte an einzelnen Punkten zu hoch ausfallen. Bürger können zudem gerichtlich überprüfen lassen, ob Messstationen richtig platziert sind.
Für die Feststellung, „dass ein Grenzwert im Mittelungszeitraum eines Kalenderjahrs überschritten wurde“, genüge es, wenn „an nur einer Probenahmestelle ein über diesem Wert liegender Verschmutzungsgrad gemessen wird“, entschieden die Luxemburger Richter. Es gelten also strenge Vorgaben bei der Messung von Luftschadstoffen.
Auslegung der EU-Richtlinie 2008/50 über Luftqualität
Auslöser für das Urteil war ein Fall aus Belgien. Hier klagten die Umweltorganisation ClientEarth und mehrere Brüsseler Bürger, weil sie die belgische Hauptstadt für zu nachlässig bei der Luftreinhaltung hielten. ClientEarth monierte, dass Messstationen an zwei Brüsseler Hauptverkehrsstraßen zwischen 2008 und 2014 abgeschaltet gewesen seien.
Das zuständige belgische Gericht legte dann dem EuGH zwei Fragen zur Auslegung der EU-Richtlinie 2008/50 über Luftqualität vor: Können Bürger gerichtlich überprüfen lassen, ob an der richtigen Stelle gemessen wird? Und ist ein zu hohes Ergebnis für Stickstoffdioxid, Feinstaub oder andere Schadstoffe an einem einzigen Messpunkt schon eine Verletzung des EU-Grenzwerts?
Zu der Frage, ob zur Beurteilung der Einhaltung der Grenzwerte ein Mittelwert aus den Ergebnissen verschiedener Messstellen gebildet werden kann, führte der EuGH nun aus, dass ein Mittelwert in einem Gebiet oder Ballungsraum „keinen zweckdienlichen Hinweis auf die Schadstoffexposition der Bevölkerung liefert.“ Bei der Beurteilung, ob die Mitgliedstaaten die Grenzwerte eingehalten hätten, sei „der an jeder einzelnen Probenahmestelle gemessene Verschmutzungsgrad entscheidend“.
„Der Witz über den Statistiker…“
Schon im Februar hatte die zuständige Generalanwältin Juliane Kokott ein ähnliches Gutachten vorgelegt. Demnach sollen Bürger die Standortwahl von Messstellen vor Gericht prüfen lassen können. Und der Wert einer einzelnen Messstation soll ausschlaggebend sein, nicht der Mittelwert mehrerer Punkte.
Die Generalanwältin argumentierte, dass überall, wo Grenzwerte überschritten werden, Gesundheitsfolgen zu befürchten seien. Und genau dort müsse auch etwas dagegen getan werden. Durchschnittswerte für ein größeres Gebiet oder einen Ballungsraum hätten wenig Bedeutung. In ihrem Gutachten schrieb sie: „Der Witz über den Statistiker, der in einem See ertrinkt, obwohl dieser im Durchschnitt nur wenige Zentimeter tief ist, bringt dies treffend zum Ausdruck.“
In seinem Urteil verweist der EuGH nun zudem darauf, dass die Richtlinie detaillierte Regelungen für die Einrichtung und die Standorte von Probenahmestellen zur Messung der Luftqualität in den Gebieten und Ballungsräumen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten enthält.
Einige dieser Regelungen enthielten „klare, präzise und nicht an Bedingungen geknüpfte Verpflichtungen“, sodass sich Einzelpersonen gegenüber dem Staat auf sie berufen könnten. Dies gelte insbesondere für die Verpflichtung, Probenahmestellen so einzurichten, dass sie Informationen über die am stärksten belasteten Orte liefern, sowie die Verpflichtung, eine Mindestzahl von Probenahmestellen einzurichten.
„Es ist Sache der nationalen Gerichte, die Einhaltung dieser Verpflichtungen zu überprüfen“, teilte der EuGH mit. Zwar verfügten die zuständigen nationalen Behörden bei der Festlegung der konkreten Standorte von Probenahmestellen über ein Ermessen, dies sei der gerichtlichen Kontrolle jedoch nicht entzogen.
Für alle Mitgliedsstaaten bindend
Der EuGH betonte, dass der Standort der Probenahmestellen bei dem System zur Beurteilung und Verbesserung der Luftqualität eine entscheidende Rolle spielt – vor allem, wenn der Verschmutzungsgrad eine bestimmte Schwelle überschreitet.
„Daraus folgt, dass der Zweck der Richtlinie gefährdet wäre, wenn Probenahmestellen, die sich in einem bestimmten Gebiet oder Ballungsraum befinden, nicht im Einklang mit den von ihr aufgestellten Kriterien eingerichtet würden“, teilte der EuGH mit. Daher müssten die zuständigen nationalen Behörden den Standort der Probenahmestellen so wählen, „dass die Gefahr unbemerkter Überschreitungen von Grenzwerten minimiert“ werde.
Das EuGH-Urteil ist für alle Mitgliedsstaaten bindend. Dieselfahrer dürften also das Nachsehen haben. Denn die Behörden müssen nun für eine strikte Auslegung des EU-Rechts sorgen. Da Dieselfahrzeuge für die Stickoxide verantwortlich gemacht werden, drohen hier Fahrverbote.
In Deutschland laufen vergleichbare Klagen. So lässt die Deutsche Umwelthilfe überprüfen, ob Städte den Luftreinhalteplan einhalten. Die Politik sieht die Sache jedoch genau anders herum. So kritisiert Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU), dass Messstationen direkt an Kreuzungen oder Busbahnhöfen aufgebaut würden. Dadurch könnten die Ergebnisse der Messungen fälschlicherweise zu hoch ausfallen und unnötige Fahrverbote zur Folge haben.
Die FDP spricht von „Messwahnsinn“ und fordert, Messstellen nicht in nächster Nähe von Emissionsquellen aufzustellen. Die EU-Richtlinie 2008/50 macht allerdings Vorgaben: Zu erfassen seien „Daten über Bereiche innerhalb von Gebieten und Ballungsräumen, in denen die höchsten Konzentrationen auftreten“. Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) betonte stets, die deutschen Messpunkte seien nach EU-Recht korrekt. Dennoch gab sie eine Überprüfung in Auftrag, deren Ergebnis demnächst vorliegen soll.
Nach Angaben des deutschen Umweltbundesamtes wurde im vergangenen Jahr der EU-Grenzwert für Stickstoffdioxid in 57 Städten überschritten. Der EU-Grenzwert liegt bei 40 Mikrogramm NO² pro Kubikmeter Luft im Jahresmittel. Die bundesweit höchste Belastung hatte im vergangenen Jahr Stuttgart mit 71 Mikrogramm, danach folgten Darmstadt mit 67 und München mit 66 Mikrogramm.
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Siehe dazu auch: Neue Zuständigkeiten für Verwaltungsgerichte
Urteil des EuGH C-723/17 vom 26.06.2019 …
Schlussanträge der Generalanwältin Juliane Kokott vom 28.02.2019 (insb. Rz 85) …