Politik und Richter

Fischer im Recht
Fischer im Recht

Wenn Recht geronnene Politik ist, und Politik die Umwandlung von Gewalt in Recht, dann ist klar, dass Richter unmöglich jenseits des einen wie des anderen stehen können. Was also sind Richter?

(Aus der Kolumne von Thomas Fischer, Bundesrichter in Karlsruhe, in „zeit.de“)

„Rechtsstab“, sagte Max Weber, und meinte: Eine durch Recht geschaffene Gruppe von Personen, der die Aufgabe übertragen ist, rechtliche Regeln in dem Sinn „anzuwenden“, dass sie Konflikte stellvertretend entscheiden. Nicht stets ist die Position des Richters mit der Macht über Gewalt verknüpft, stets aber mit einer Macht der Legitimation: aus Berufung auf Sinn, auf Übersinnliches, auf „Vernunft“.


Legitimation als Richter setzt nach heutigem Verständnis voraus: Unabhängigkeit von den Parteien des Konflikts, Distanz zu den inhaltlichen Positionen, Berufung auf eine legitimierende Gewalt. In dieser Beschreibung stecken viele Tausend Zwiebelschichten.

Richter machen Politik und …

Richter machen Politik. Das ist, nach allem Gesagten, eine Binsenweisheit, mag auch der eine oder andere Freund des feingliedrigen Differenzierens hier wieder einmal die entscheidenden Tausend Fußnoten vermissen. Teilweise ist die pure Politik-Ersatzfunktion in unserer Verfassung auf offenkundig-technische Weise vorgesehen: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entscheidet zum Beispiel über sogenannte „Organklagen“ zwischen handelnden Personen oder Institutionen des Verfassungsrechts: Bund und Ländern, Fraktionen und Regierung, Bundestag und Bundesrat, und so fort. Es entscheidet – allein und mit Gesetzeskraft – über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen oder über die Verfassungswidrigkeit von Parteien (Paragraf 13 Bundesverfassungsgerichtsgesetz).

Oberverwaltungsrichter entscheiden über Anträge auf „Normenkontrolle“ gegen Verordnungen. Das Bundesverfassungsgericht erlässt „Übergangsregelungen“: Da setzen sich acht Richterlein zusammen und schreiben ein „Gesetz“ für eine jahrelange „Übergangszeit“, wie sie sie gerne hätten. Kein Bundesrat und kein Ausschuss und kein Bundespräsident kann ihnen hereinreden, und die unvoreingenommen-neutrale Überprüfung findet gleich an Ort und Stelle statt.

Das ist die äußerste, sichtbare Hülle. Darunter aber machen Richter viel weiter „Politik“: Zum einen, dem sie Regeln anwenden und bestätigen, die „politisch“ entstanden sind (wie sonst?). Zum anderen, indem sie das tun, was Aufgabe und Funktion des Rechts ist: Lebenswirklichkeit unter Rechtsregeln „subsumieren“. „Wer einen Menschen tötet“, wird nach Paragraf 212 Strafgesetzbuch bestraft. Das klingt, als sei es selbstverständlich, ist es aber nicht. Von deutschen Juraprofessoren der 1930er Jahre wurde vorgeschlagen, das Wort „Mensch“ ein wenig zu präzisieren, damit der Jude davon nicht mehr erfasst werde. Und was im ganz Großen geht, geht jeden Tag auch im ganz Kleinen: Was ist ein „gefährliches“ Werkzeug? Was ist „Gefahr“? Was ist „niedrig“, was „unbefugt“?

Mit anderen Worten, und ganz unabhängig vom Rechtsgebiet: Richter „vollziehen“ nicht allein Politik, sondern „machen“ sie Tag für Tag. Die meisten der handelnden Personen sind übrigens auch superstolz darauf: Ich (wir) habe(n) entschieden, dass der Radfahrer und der Segelbootführer ab 1,7 Promille Blutalkohol regelmäßig fahruntauglich seien.

Nur wenn sie nach ihrer Verantwortung gefragt werden, schnurren die Helden des Richterrechts binnen Sekunden zu verhutzelten Zwergen der „neutralen“ Rechtsumsetzung zusammen und haben niemals nicht mit Politik zu tun gehabt und ganz bestimmt niemals etwas anderes als ihre Pflicht getan. Jedenfalls nicht vorsätzlich. So schleppt sich die Justiz durch die Jahrhunderte, und hängt, in aller Unschuld, die Ölgemälde Ihrer verflossenen Chefpräsidenten an die Wände, als hätte uns dies etwas Inhaltliches zu sagen.

… Politik macht Richter

Sicher ist: Verfassungsrichter werden sorgsam ausgewählt, von Personen, die ihrerseits sorgsam ausgewählt wurden von Personen, die ihrerseits sorgsam ausgewählt wurden. Das ergibt, insgesamt, eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass nichts wirklich Überraschendes passiert. Ein Makel dieser Auswahl ist, dass praktisch ausschließlich die politischen Parteien darüber bestimmen, wer überhaupt in Betracht kommt. Sie haben sich – entgegen Art. 21 Grundgesetz – den Staat unter den Nagel gerissen und untereinander aufgeteilt.

Die Stellen für Richter des Bundesverfassungsgerichts werden – viele Jahre im Voraus – zwischen den behaupteten oder eingebildeten Strippenziehern der politischen Parteien ausgehandelt: Ich stimme Deinem Kandidaten zu, weil Du versprochen hast, meinem Kandidaten zuzustimmen. Sie können, Leserinnen und Leser, davon ausgehen, dass für die Nachfolge eines jeden einzelnen heute aktiven Verfassungsrichters die parteipolitischen Messer der Performance schon gewetzt sind. Betrachtet man die Laufwege en détail, ist man oft erschreckt, sollte aber auch vor eigener Überheblichkeit zurückschrecken.

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