Da die Mehrwertsteuereinnahmen der Mitgliedsstaaten in die Finanzmittel der EU fließen, besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuer und den finanziellen Interessen der Union. Da das italienische Recht bei schwerem Mehrwertsteuerbetrug eine zu kurze Gesamtverjährungsfrist vorsieht, darf diese nicht angewendet werden, wenn die finanziellen Interessen der Union beeinträchtigt werden können. Das hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 08.09.2016, GZ. C-105/14 (Taricco u.a.) ausgesprochen.
Im Anlassfall war den Beschuldigten in Italien zur Last gelegt worden, in den Jahren 2005 bis 2009 eine kriminelle Vereinigung gegründet und organisiert zu haben. Über ein Mehrwertsteuerkarussell sollen sie mit Hilfe von Scheingesellschaften und falschen Unterlagen Champagner mehrwertsteuerfrei erworben und verkauft haben.
Das italienische Recht sieht bei schwerem Mehrwertsteuerbetrug nur eine kurze Gesamtverjährungsfrist vor, was dazu führte, dass hinsichtlich eines Teils der gegen die Beschuldigten eingeleiteten Strafverfahren bereits Verjährung eingetreten ist, für den Rest wird dies spätestens am 8. Februar 2018 der Fall sein. Bis dahin werde wegen der Komplexität der Ermittlungen und der Länge des Verfahrens kein endgültiges Urteil ergehen können, so der EuGH.
Könne aber eine beträchtliche Anzahl von schweren Betrugsfällen nicht strafrechtlich geahndet werden, weil die Verjährungsregeln im Allgemeinen das Ergehen endgültiger gerichtlicher Entscheidungen verhindern, stünden die italienischen Regelungen nicht im Einklang mit EU-Recht. Der in Art. 325 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) festgelegte Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts hat nach Auffassung des EuGH nämlich zur Folge, dass allein durch sein Inkrafttreten jede entgegenstehende Bestimmung des geltenden nationalen Rechts ohne Weiteres unanwendbar wird.
Das lokale Gericht in Italien muss diese Einschätzung des EuGH nun nachprüfen. Kommt es zu dem Ergebnis, dass ein Verstoß gegen Art. 325 AEUV vorliegt, müsste es dann die volle Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleisten. Dazu müsste es erforderlichenfalls die fraglichen Verjährungsregeln unangewendet lassen.