Noch 200 Tage – eine Bestandsaufnahme

In etwas mehr als einem halben Jahr werden die neuen Verwaltungsgerichte ihre Arbeit aufnehmen.

Nun haben alle Bundesländer den gesetzlichen Organisationsrahmen für „ihre“ Gerichte und die dienstrechtlichen Bestimmungen für „ihre“ Verwaltungsrichter beschlossen, das neue Verfahrensrecht ist kundgemacht und die Anpassung der Materiengesetze weitgehend über die Bühne.

Zeit für eine Bestandsaufnahme:

Organisations- und Dienstrechte:

– Das Problem der mangelnden strukturellen Unabhängigkeit – Stichwort: Besorgung der Justizverwaltung durch die Landesregierung als kontrollierter Behörde – wird sehr wahrscheinlich die Verwaltungsgerichte der Länder über den 1. Jänner 2014 hinaus begleiten. Eine erste richtungsweisende Entscheidung könnte allerdings das Urteil des Verfassungsgerichtshofes über die Klage der Opposition im Wiener Landtag gegen die entsprechenden Bestimmungen im Wiener Verwaltungsgerichtsgesetz bringen. Das Vorverfahren dazu läuft, der Verfassungsgerichtshof hat bereits alle 9 Landesregierungen aufgefordert, zu dieser Anfechtung Stellung zu nehmen.

– Entgegen der einstimmigen Entschließung des Nationalrates, welche eine Kohärenz der dienstrechtlichen Regelungen zur Sicherstellung der Durchlässigkeit und der Möglichkeit des Wechsels zwischen Gerichten des Bundes und der Länder fordert, gibt es in den Ländern keine Richterdienstrechte, die diese Durchlässigkeit ermöglichen.

– Die in einigen Bundesländern vorgesehenen unterschiedlichen Gehaltsschemata für „alte“ und „junge“ Richter bekommen vor dem Hintergrund der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes betreffend die unmittelbare Anwendung der Anti-Diskriminierung-Richtlinie der EU besondere Brisanz.

– Der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der Gerichte, welche für die Vollzugspraxis der Behörden eine besondere Bedeutung haben wird, wurde von den Ländern bemerkenswert wenig Bedeutung zugemessen. Es blieb dem Landesgesetzgeber überlassen, ob beim Gericht eine Evidenz- und Dokumentationsstellen eingerichtet wird bzw. ob die Entscheidungen des Gerichts im RIS veröffentlich werden. Die Gelegenheit einer österreichweiten einheitlichen Dokumentation der Verwaltungsgerichtsentscheidungen wurde damit verpasst.

Verfahrensrecht:

– Die Abgrenzung der sachlichen Zuständigkeit zwischen dem Bundesverwaltungsgericht und den Verwaltungsgerichten in den Ländern orientiert sich an der in der Bundesverfassung vorgesehenen Kompetenzverteilung. Diese Vorgangsweise erscheint auf den ersten Blick logisch und nachvollziehbar und ist zwangsläufige Konsequenz der föderalistisch organisierten Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich.

Auf den zweiten Blick erkennt man allerdings, dass damit die über viele Jahre angehäuften Strukturprobleme der österreichischen Bundesverfassung mit einem Schlag ganz praktische Auswirkungen haben werden: Fragestellungen zur Definition von unmittelbarer Bundesverwaltung, ihre Abgrenzung zur mittelbaren oder zum übertragenem Wirkungsbereich oder über den Typus der Sicherheitsverwaltung können Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen sein, als Anknüpfungspunkt für gerichtliche Zuständigkeiten erscheinen sie denkbar wenig geeignet.

Die Erläuterungen zu den Zuständigkeitsbestimmungen versuchen zwar in wesentlichen Anwendungsbereichen Klarheit zu schaffen. Gleichzeitig gibt es aber Beispiele, dass oft nicht einmal der Materiengesetzgeber sicher ist, ob das Bundesverwaltungsgericht oder ein Verwaltungsgericht der Länder zuständig ist. In diesem Fällen werden eindeutige gesetzliche Festlegungen vermieden. Klare und für Rechtsschutzsuchende und Behörden nachvollziehbare Zuständigkeitsbestimmungen sehen anders aus.

– Gleichzeitig wurde im Verfahrensrecht der – auch in Verwaltungsgerichtssystemen anderer EU-Staaten – bewährte Grundsatz aufgegeben, dass einziger Anknüpfungspunkt für die örtliche Zuständigkeit des Gerichtes der Sitz der Behörde ist, welche den bekämpften Bescheid erlassen hat. Selbst wenn diese Zuständigkeitsbestimmung in letzter Minute für Verwaltungsstrafverfahren wieder geändert und die bisherige Rechtslage wiederhergestellt wird, werden diese Zuständigkeitsregelungen in bestimmten Bereichen – wie etwa der Sicherheitsverwaltung – erheblich Rechtsunsicherheit bringen, kann doch in Zukunft der Fall eintreten, dass eine Behörde von mehreren Gerichten kontrolliert wird.

– Es ist nicht gelungen, ein weitgehend kodifiziertes Verfahrensrecht für die neuen Gerichte zu schaffen. Das Nebeneinander von drei Verfahrensordnungen (Verwaltungsgericht-Verfahrensgesetz, AVG und VStG) und die Vielzahl verfahrensrechtlicher Sonderbestimmungen in Materiengesetzen schaffen eine unübersichtliche Rechtslage, welche modernen rechtsstaatlichen Standards nicht gerecht wird.

– Für ein modernes Verfahrensrecht wäre es darüber hinaus unabdingbar gewesen, den Gerichten die Streitbeilegung durch verwaltungsgerichtlichen Vergleich oder durch Mediation zu ermöglichen. Beide verfahrensrechtlichen Instrumente fehlen bisher.

– Es gibt in Europa nur zwei Staaten, welche auch im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten die Beteiligung von Laienrichtern kennen. In diesen Ländern (Deutschland und Schweden) gibt es einheitliche Regelungen für die Auswahl und Bestellung der Laienrichter, ebenso einheitliche Verfahrensbestimmungen.

Beide Festlegungen wurden in Österreich verabsäumt. Das Ergebnis ist eine Vielzahl unterschiedlich zusammengesetzter Spruchkörper, unterschiedliche Auswahl- und Bestellmodalitäten für Laienrichter und ein unterschiedliches Verfahrensrecht. Für den äußeren Anschein der Unabhängigkeit der neuen Gerichte ist diese Vorgangsweise alles andere als förderlich. Diese Problematik zeigt sich besonders deutlich bei zukünftigen Dienstrechtsverfahren vor dem Verwaltungsgericht Wien: Hier wird ausschließlich die Beteiligung von (weisungsgebundenen) Magistratsbediensteten als Laienrichter vorgesehen.

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