Die Eckpunkte der B-VG-Novelle zur Einrichtung von Verwaltungsgerichten: Interview mit Sektionschef Dr. Gerhard Hesse (BKA)

Im Rahmen der Internationalen Konferenz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Europa, welche am 12. April 2012 im Wiener Rathaus stattfand, hat der Leiter des Verfassungsdienstes im Bundeskanzleramt, Sektionschef Dr. Gerhard Hesse, bereits über die Eckpunkte der Verfassungsgesetznovelle zur Einrichtung von Verwaltungsgerichten referiert. In einem online- Interview fasst er die wesentlichen Inhalte nochmals zusammen.

VUVS-online: Sehr geehrter Herr Sektionschef, werden bei der Ernennung der Verwaltungsrichter signifikante Unterschiede zum Ernennungsvorgang der Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit bestehen?

Hesse: Gemäß dem vorgeschlagenen Art. 134 Abs. 2 B-VG ernennt die Landesregierung den Präsidenten, den Vizepräsidenten und die sonstigen Mitglieder des Verwaltungsgerichtes eines Landes. Die Landesregierung hat – soweit es sich nicht um die Stelle des Präsidenten oder Vizepräsidenten handelt – Dreiervorschläge der Vollversammlung des Verwaltungsgerichtes (oder eines aus der Mitte der Vollversammlung gewählten Ausschusses) einzuholen. Gemäß dem vorgeschlagenen Art. 134 Abs. 3 B-VG ernennt der Bundespräsident den Präsidenten, den Vizepräsidenten und die sonstigen Mitglieder des Verwaltungsgerichtes des Bundes auf Vorschlag der Bundesregierung. Die Bundesregierung hat – soweit es sich nicht um die Stelle des Präsidenten oder Vizepräsidenten handelt – Dreiervorschläge der Vollversammlung des Verwaltungsgerichtes (oder eines aus der Mitte der Vollversammlung gewählten Ausschusses) einzuholen.

Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit werden gemäß Art. 86 Abs. 1 B-VG gemäß dem Antrag der Bundesregierung vom Bundespräsidenten ernannt. Der Bundespräsident kann jedoch den Justizminister zur Ernennung ermächtigen. Die Bundesregierung oder der Justizminister hat Besetzungsvorschläge der zuständigen Senate der Gerichte einzuholen.

Signifikante Unterschiede zwischen der Ernennung der Verwaltungsrichter und der Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit bestehen demnach nicht. Weder die Ernennungsvorschläge in der Verwaltungsgerichtsbarkeit noch die Ernennungsvorschläge in der ordentlichen Gerichtsbarkeit sind bindend.

VUVS-online: Welche Ernennungsvoraussetzungen sind für die Verwaltungsrichter vorgesehen ?

Hesse: Gemäß dem vorgeschlagenen Art. 134 Abs. 2 und 3 B-VG müssen Verwaltungsrichter das Studium der Rechtswissenschaften (oder: rechts- und staatswissenschaftliche Studien; Mitglieder des Bundesfinanzgerichtes: einschlägiges Studium) abgeschlossen haben und über eine fünfjährige juristische (Mitglieder des Bundesfinanzgerichtes: einschlägige) Berufserfahrung verfügen.

Für die ordentliche Gerichtsbarkeit bestehen keine vergleichbaren verfassungsrechtlichen Vorgaben. Die einfachgesetzliche Rechtslage: Zum Richter kann nur ernannt werden, wer die für den richterlichen Vorbereitungsdienst vorgesehenen Aufnahmeerfordernisse erfüllt, die Richteramtsprüfung bestanden hat und eine vierjährige Rechtspraxis, davon zumindest ein Jahr im richterlichen Vorbereitungsdienst zurückgelegt hat (§ 26 Abs. 1 RStDG). Voraussetzungen für die Aufnahme in den richterlichen Vorbereitungsdienst sind der Abschluss eines Studiums des österreichischen Rechts (oder die Zurücklegung eines rechtswissenschaftlichen Diplomstudiums/rechts- und staatswissenschaftlicher Studien) und eine Gerichtspraxis als Rechtspraktikant in der Dauer von fünf Monaten (§ 2 Abs. 1 RStDG). Der Ausbildungsdienst dauert gemäß § 9 Abs. 1 RStDG vier Jahre (Zeiten als Rechtspraktikant können gemäß § 15 RStDG jedoch eingerechnet werden). Die Richteramtsprüfung ist schriftlich und mündlich abzulegen (§ 16 RStDG).

VUVS-online: Wird es in Zukunft wird es möglich sein, jede Entscheidung einer Verwaltungsbehörde bei einem Verwaltungsgericht anzufechten?

Hesse: Gemäß dem vorgeschlagenen Art. 130 Abs. 1 B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit, gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, wegen Verletzung der Entscheidungspflicht durch eine Verwaltungsbehörde und gegen bestimmte Weisungen. Diese Zuständigkeiten können durch einfaches Gesetz erweitert werden (insbesondere im Hinblick auf nicht typengebundenes Verwaltungshandeln). Da Entscheidungen von Verwaltungsbehörden, hinsichtlich deren ein Rechtsschutzbedürfnis besteht, in Bescheidform zu ergehen haben, und das vorgeschlagene System der Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz eine Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte zur Überprüfung von Bescheiden vorsieht, ist grundsätzlich jede „Entscheidung“ einer Verwaltungsbehörde bei einem Verwaltungsgericht anfechtbar. (Dies gilt auch für jenes Handeln der Verwaltungsbehörde, das dem Rechtsunterworfenen gegenüber nicht in Form einer Entscheidung, sondern in formlosem Befehl und faktischem Zwang in Erscheinung tritt.) Darüber hinaus können Entscheidungen, hinsichtlich deren ein solches Rechtsschutzbedürfnis von Verfassung wegen nicht besteht, zum Prüfungsgegenstand der Verwaltungsgerichte erklärt werden. Ausnahmen von der Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte bestehen grundsätzlich nicht. Allerdings kennt die Rechtsordnung gewisse Erledigungen von Verwaltungsbehörden, die nicht gesondert, sondern erst mit einem das Verfahren der Verwaltungsbehörde erledigenden Bescheid anfechtbar werden (insb. Verfahrensanordnungen). Bescheide von Verwaltungsbehörden können jedoch dann nicht bei den Verwaltungsgerichten angefochten werden, wenn statt der Verwaltungsgerichte ein ordentliches Gericht zur Entscheidung berufen ist.

VUVS-online: Wird es Vorgaben für die innere Organisation der Verwaltungsgerichte geben ?

Hesse: Gemäß dem vorgeschlagenen Art. 135 Abs. 1 B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte durch Einzelrichter. Im Gesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte und in den Bundes- oder Landesgesetzen kann jedoch vorgesehen werden, dass die Verwaltungsgerichte durch Senate entscheiden. Die Größe der Senate wird durch das jeweilige Organisationsgesetz festgelegt. Die Senate sind aus den Mitgliedern des Verwaltungsgerichtes zu bilden. Bundes- und Landesgesetze können jedoch auch die Mitwirkung von fachkundigen Laienrichtern an der Rechtsprechung vorsehen.

Die Geschäfte sollen gemäß dem vorgeschlagenen Art. 135 Abs. 2 B-VG von der Vollversammlung oder einem Ausschuss auf die Einzelrichter und die Senate für eine gesetzlich bestimmte Zeit im Voraus verteilt werden. Von der Geschäftsverteilung darf nur unter den besonderen Umständen des vorgeschlagenen Art. 135 Abs. 3 B-VG abgewichen werden.

Eine Spezialisierung innerhalb eines Verwaltungsgerichtes ist nach dem vorgeschlagenen Modell nicht zwingend vorgesehen, wird jedoch ermöglicht. Es ist Sache der einfachen Gesetzgebung, eine notwendige Spezialisierung innerhalb des Verwaltungsgerichtes vorzusehen. (Nach geltendem Recht ist der AsylGH als spezialisiertes Verwaltungsgericht anzusehen, das in Asylsachen erkennt.)

Einzelne, genau zu bezeichnende Arten von Geschäften dürfen besonders ausgebildeten nichtrichterlichen Bediensteten (Rechtspflegern) übertragen werden.

VUVS-online: Welche Verfahrensgrundsätze sind durch den vorliegenden B-VG- Entwurf bereits vorgegeben? Können Sie einen kurzen Überblick darüber geben ?

Hesse: Die Regierungsvorlage enthält keine Bestimmungen über die Einbringung der Beschwerde bei einem Verwaltungsgericht. Nach einer politischen Absichtserklärung, die auch in den Erläuterungen zum Ausdruck kommt, soll sich das Verfahren der Verwaltungsgerichte jedoch am bisherigen allgemeinen Verwaltungsverfahren orientieren. Es ist daher weder beabsichtigt, eine Anwaltspflicht einzuführen, noch sollen Beschwerden von sonstigen Sachkundigen eingebracht werden müssen. Daher soll auch keine Verfahrenshilfe vorgesehen werden.

Wann eine mündliche Verhandlung stattfinden soll, ist durch das Verfahrensgesetz näher zu regeln. Bei der Ausgestaltung dieses Verfahrensgesetzes sind jedoch die Vorgaben des Art. 6 EMRK einerseits und des Art. 47 GRC andererseits zu berücksichtigen. Über den Schutzbereich des Art. 6 EMRK („zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“/„strafrechtliche Anklage“) hinaus sieht § 67d AVG für das Verfahren vor den UVS eine Pflicht zur Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung vor: Der UVS hat eine mündliche Verhandlung durchzuführen, wenn eine der Parteien dies beantragt oder wenn es der UVS für erforderlich hält. Erforderlich ist die Durchführung der mündlichen Verhandlung dann, wenn dies auf Grund von Art. 6 EMRK geboten ist. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung kann – trotz Antrags einer Partei – etwa dann unterbleiben, wenn die Berufung (etwa als verspätet) zurückzuweisen ist oder wenn schon auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid vom UVS aufzuheben ist.

Nach dem AVG, das dem Verfahrensgesetz als Vorbild dienen soll, sind Verhandlungen zügig so zu führen, dass den Parteien das Recht auf Gehör gewahrt wird, anderen Beteiligten aber auch Gelegenheit geboten wird, bei der Feststellung des Sachverhalts mitzuwirken. Verhandlungen vor den UVS sind zwar grundsätzlich volksöffentlich, jedoch dürfen an der Sache nicht Beteiligte in der Verhandlung nicht das Wort ergreifen.

Die Regierungsvorlage schließt nicht aus, dass Verwaltungsgerichte Tatsachen selbst ermitteln. Vielmehr soll nach dem vorgeschlagenen Art. 130 Abs. 4 Z 2 B-VG das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst entscheiden, wenn „die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist“.

Gemäß dem vorgeschlagenen Art. 133 Abs. 1B-VG erkennt der VwGH über Revisionen gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes wegen Rechtswidrigkeit. (Dies gilt grundsätzlich auch für [verfahrensrechtliche] Beschlüsse des Verwaltungsgerichtes, jedoch ist im VwGG zu regeln, inwieweit gegen Beschlüsse der Verwaltungsgerichte Revision erhoben werden kann [Art. 133 Abs. 9 B-VG].) Die Revision ist zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Hat das Erkenntnis nur eine geringe Geldstrafe oder eine geringe Leistung in Geld/Geldeswert zum Gegenstand, kann durch Bundesgesetz vorgesehen werden, dass die Revision unzulässig ist (Art. 133 Abs. 4 B-VG).

Neben dem VwGH kann auch der VfGH zur Entscheidung über Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte angerufen werden. Wählt der Beschwerdeführer diesen Weg, muss er behaupten, in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt zu sein. Hat die Beschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg oder ist von der Entscheidung des VfGH die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten, kann der VfGH die Beschwerde jedoch ablehnen.

Gemäß dem vorgeschlagenen Art. 139 Abs. 1 Z 1 B-VG erkennt der VfGH über die Gesetzwidrigkeit einer Verordnung auf Antrag eines „Gerichtes“, demnach auch auf Antrag eines Verwaltungsgerichtes. Gemäß dem vorgeschlagenen Art. 140 Abs. 1 Z 1 lit. a B-VG erkennt der VfGH über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen ua. auf Antrag eines Verwaltungsgerichtes.

VUVS-online: Herr Sektionschef, vielen Dank für das Interview

(Das Interview führte  Siegfried Königshofer, stellvertretender Bundesvorsitzender der UVS-Vereinigung)

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