Unsere Angst – Wahrnehmungsschwäche bei der Sicherheit vor Gericht

Der Mord an der Ägypterin Marwa al-Scherbiny hat Deutschland an den Rand eines Kulturkampfes gebracht. Politik und Medien sind dafür mitverantwortlich. Die Dresdner Justiz hatte die Verhandlung für eine Routinesache gehalten. Was anderswo Standard ist – Taschenkontrolle, Metalldetektoren -, bildet die Ausnahme in sächsischen Gerichtsgebäuden.

Von Christian Denso, Martin Spiewak, Michael Thumann und Bernd Ulrich

Quelle: DIE ZEIT, 2009.07.16

Mit freundlicher Genehmigung der Autoren

Unsere Angst

DIE ZEIT, Ausgabe 30, 2009

Von Christian Denso, Martin Spiewak, Michael Thumann und Bernd Ulrich | © DIE ZEIT, 16.07.2009 Nr. 30

Der Mord an der Ägypterin Marwa al-Scherbiny hat Deutschland an den Rand eines Kulturkampfes gebracht. Politik und Medien sind dafür mitverantwortlich.

Zorn in der arabischen Welt: Ägypterinnen demonstrieren vor der Botschaft in Kairo gegen den Mord an der 31-jährigen Marwa al-Scherbiny in einem Dresdner Gerichtssaal Was ist das? Eine private Tragödie oder ein brisantes Politikum? Das furchtbare Ende eines Konflikts zwischen zwei ethnischen Minderheiten oder der Beginn eines neuen Kulturkampfes?

Die Zeugin im Beleidigungsprozess vor dem Dresdner Landgericht am Vormittag des 1. Juli ist gerade angehört worden. Da bittet der Angeklagte, der die kopftuchtragende Ägypterin auf einem Spielplatz als »Islamistin«, »Terroristin« und »Schlampe« beschimpft hatte, darum, eine Frage stellen zu dürfen. Die Kammer lässt sie zu. »Haben Sie überhaupt ein Recht, in Deutschland zu sein?«, fragt Alex W. Marwa al-Scherbiny. Er selbst gibt die Antwort: »Sie haben hier nichts zu suchen.« Dann droht Alex W., so berichten Anwesende, »wenn die NPD an die Macht kommt, ist damit Schluss!«

Schließlich, als die 31 Jahre alte Mutter schon zur Tür des Verhandlungssaals geht, zieht der 28-Jährige ein Messer, stürzt auf die Muslimin, die im dritten Monat schwanger ist, und sticht auf sie ein. 18 Mal in 32 Sekunden, heißt es. Der Ehemann wirft sich dazwischen, auch er wird durch drei Messerstiche schwer verletzt. Zwei Bundespolizisten eilen zu Hilfe, die in einem anderen Verfahren aussagen sollen. Im Tumult verwechselt einer der Polizisten den Ehemann mit dem Messerstecher. Ein Schuss aus der Dienstwaffe trifft ein Bein des Ägypters.

Wenige Minuten später ist die Frau tot. Sie hatte auf die deutsche Justiz vertraut, hatte bei ihr Schutz vor dem Ausländerhass gesucht – und ist in einem deutschen Gerichtssaal schutzlos gestorben. Das ist das furchtbare Paradox, das ist auch die politische Explosivität des Falls.

Wenn man einmal Mutmaßungen über das (west-)deutsche Mehrheitsbewusstsein anstellen darf, dann spielten sich dort nach dieser Tat folgende Gedankengänge ab: 1. Wie furchtbar, die arme Frau, was für ein Unglück. 2. Die Tat geschah nicht wirklich in Deutschland, sondern im Osten. 3. Der Täter ist ein Russlanddeutscher, bekanntermaßen die problematischste Minderheit, die in diesem Land lebt, also keiner von uns. 4. Ein Einzelfall also: Übergang zur Tagesordnung.

So wurde die Sache mental marginalisiert, auch die Politik nahm das alles zunächst nur aus dem Augenwinkel wahr. Die Dresdner Justiz hatte die Verhandlung für eine Routinesache gehalten. Was anderswo Standard ist – Taschenkontrolle, Metalldetektoren –, bildet die Ausnahme in sächsischen Gerichtsgebäuden. Für eine solche Ausnahme aber, so Justizminister Geert Mackenroth (CDU), waren »keine besonderen Sicherheitsrisiken erkennbar«.

Die Wahrnehmungsschwäche wirkte weiter, als das Verbrechen schon geschehen war. Nach dem Mord erkannten nur wenige deutsche Journalisten mit einer eigenen Einwanderungsgeschichte (wie die Publizistin Hilal Sezgin) die Brisanz sofort: Die 31-jährige Ägypterin sei das erste Todesopfer islamfeindlicher Hetze in Deutschland. Reaktionen aus der deutschen Politik auf den Mord ließen so lange auf sich warten, bis man sich aus dem muslimischen Ausland massiven Vorwürfen von Islamfeindlichkeit ausgesetzt sah.

Die Empörung kam nicht von innen, sie kam von außen.

»Es scheint, dass die deutsche Gesellschaft die Tragweite des Dresdner Anschlags nicht erkannt hat«, schrieb der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan J. Kramer, schließlich.

Nach einigen Tagen dann verurteilten deutsche Politiker den Mord, brandmarkten die Ausländerfeindlichkeit und eilten nach Dresden. Kanzlerin und Außenminister äußerten sich entsetzt, der sächsische Ministerpräsident Tillich besuchte den Ehemann im Krankenhaus, SPD-Chef Müntefering nahm an der Trauerfeier am 11. Juli teil, mit insgesamt 1500 Gästen. Ernste, starke Worte fielen, weiße Rosen wurden niedergelegt. Hat nun alles wieder seine Ordnung? Sind die fünf Tage unschädlich gemacht, eine kleine Peinlichkeit, bald vergessen?

Nicht überall. Marwa al-Scherbiny wurde zweimal die letzte Ehre erwiesen. In Dresden mit der Trauerfeier, in Alexandria (Ägypten) mit der Beerdigung. Die war auch politisch, nur anders: Verzweifelte und grell empörte Männer trugen die Tote zu Grabe. Frauen waren kaum zu sehen, auch ihre Verwandten wurden in den Hintergrund gedrängt. Es dominierten junge Männer, die zur Trauerfeier reichlich Wut mitgebracht hatten und Plakate, auf denen »Nieder mit Deutschland!« zu lesen war. Dazu der Slogan: »Es gibt keinen Gott außer Gott, und die Deutschen sind die Feinde Gottes.«

Die »Kopftuch-Märtyrerin« war tagelang Spitzenmeldung in Nahost

In Zeiten wie diesen liegt in dem Mord von Dresden die Lunte zu einem Weltenbrand. Wie damals Anfang 2006, als die Mohammed-Karikaturen in dänischen Zeitungen die islamische Welt in Aufruhr versetzten. Oder als Papst Benedikt XVI. im September 2006 einen byzantinischen Kaiser zum Thema Gewalt im Islam zitierte. Oder als zu Beginn dieses Jahres die israelische Armee den Gaza-Streifen bombardierte.

Die Beerdigung von Marwa al-Scherbiny in Alexandria deutete den klassischen Verlauf einer neuen Krise zwischen West und Nahost an. Für entsprechende Lautstärke sorgten zunächst vor allem die ägyptischen und arabischen Medien. Auch die seriösen. Marwa, die »Kopftuch-Märtyrerin«, war tagelang Aufmacher von Nachrichtenkanälen und Zeitungen. Al-Ahram, das staatlich kontrollierte Flaggschiff der ägyptischen Presse, beschrieb »die tiefe Krise der europäischen Gesellschaften«. Islamophobie sei in der Öffentlichkeit längst alltäglich. Das Ziel der abendländischen Islamfeinde laut al-Ahram: »Europa soll zum Privatklub für Christen umfunktioniert werden.« Womit das kulturkämpferische Argument auf dem Tisch lag. Andere Zeitungen drehten den Vorwurf an den Islam seit dem 11. September um: »Wer sind jetzt die Terroristen, der Westen oder wir?« Vor allem aber merkten ägyptische Journalisten schnell, dass deutsche Politiker und Medien zu langsam reagierten. Dahinter vermutete man Rassismus: »Wäre Marwa eine Jüdin gewesen, hätte Deutschland Kopf gestanden.«

Einer wollte die Eskalation ganz besonders dringend: Irans Präsident Ahmadineschad bezeichnet den Mord von Dresden als »vorprogrammiert«, sein Außenministerium prangert den »Hass gegenüber religiösen Minderheiten in Deutschland« an. Er verlangte von UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, gegen Deutschland Sanktionen zu verhängen. Natürlich, nichts würde dem Regime in Teheran mehr helfen, aus der internationalen Isolierung herauszufinden, als ein neuer Kulturkampf gegen den Westen.

Doch sieht es so aus, als komme die Welt diesmal um die volle, unkontrollierte Eskalation herum. Drei Gründe bewahren Deutschland hoffentlich vor dem Schlimmsten:

Erstens: Die arabischen Regierungen verhalten sich maßvoll. Der ägyptische Staatschef Mubarak schwieg bis zum Treffen mit Angela Merkel am Rande des G-8-Gipfels vorige Woche in Italien und ließ dann verlauten, sie habe ihr Beileid ausgesprochen. Die harschen Presse-Äußerungen der ersten Tage wurden durch Kommentare wie diesen ergänzt: »Zahlreiche Deutsche fielen in Ägypten Anschlägen zum Opfer, ohne dass in Deutschland jemand protestierte.«

Zweitens: Die deutsche Politik hat alles zu spät, aber das meiste richtig gemacht. Im Unterschied zu Dänemark 2006. Damals führte der Premier und künftige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen eine rechtspopulistische Koalition an. Er schürte den Konflikt im Staate Dänemark zunächst kräftig, bevor er ihm draußen in der Welt außer Kontrolle geriet. Frank-Walter Steinmeier kondolierte dem ägyptischen Außenminister, der deutsche Botschafter in Kairo, Bernd Erbel, war eine Woche lang auf Sendung in den großen ägyptischen Fernsehkanälen und Zeitungen – auf Arabisch, was half.

Drittens: Glück, verdammtes Glück. Das kann beim nächsten Mal auch schiefgehen. Denn fünf Tage Schweigen können in Zeiten einer globalisierten Mediengesellschaft sehr lang sein, sie können genau die Zeitspanne markieren, die Extremisten brauchen, um aus einem politisch motivierten Mord in einer deutschen Stadt einen globalen Konflikt mit Anschlägen, Boykotten und Anfeindungen zu machen.

Beim Thema »Muslime« ergießt sich eine Flut von Ressentiments

Darum kann man die Frage, warum die deutsche Gesellschaft erst reagierte, nachdem sie vom muslimischen Ausland auf den politischen Skandal gestoßen wurde, nicht auf sich beruhen lassen. Ayyub A. Köhler, Vorsitzender des Koordinierungsrats der Muslime, hat auf diese Frage eine Antwort: »Islamophobie«. Sind die Deutschen also doch islamfeindlich?

Dass es islamfeindliche Einstellungen gibt, belegt ein Blick in die Internetausgabe der Zeitungen. Sobald ein Artikel das Verhältnis zu den Muslimen thematisiert, ergießt sich im Online-Forum eine Flut von Ressentiments und Beleidigungen. Bei keinem anderen Thema sehen sich Zeitungen so häufig gezwungen, die Online-Foren zu schließen, weil eine sachliche Diskussion nicht mehr möglich ist.

Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz sieht denn auch deutliche Parallelen zwischen dem Judenhass und der Islamfeindschaft. »Die Wut der neuen Muslimfeinde gleicht dem alten Zorn der Antisemiten gegen die Juden«, analysiert Benz. Beide Strömungen schüren Ängste – hier vor der Weltherrschaft, dort vor einer Islamisierung Europas –, beide arbeiten mit Stereotypen und schüren Überfremdungsängste.

Doch kann diese Art der Islamophobie lediglich erklären, warum Taten wie die in Dresden möglich sind. Die verzögerte Reaktion von Medien und Politik begründet das nicht. Wie tief die Islamfeindschaft in die Mehrheitsgesellschaft hineinragt, lässt sich indes nicht leicht klären, weil es neben dem Hass auf Muslime auch eine berechtigte Islamkritik gibt – anders als beim Antisemitismus (al-Qaida ist Wirklichkeit, während es sich bei der »jüdischen Weltverschwörung« um ein reines Hirngespinst handelt). Wer islamistischen Terror, Zwangsehen oder Ehrenmorde anprangert, ist nicht automatisch ein Rassist. Auch (bestimmte) Moscheebauten kann man als zu groß, hässlich oder am falschen Platz gebaut kritisieren, ohne gleich als »islamophob« gelten zu müssen. Viele Umfragen über das Ausmaß der Islamfeindschaft kranken daran, dass sie zwischen Polemik und Kritik nicht sauber unterscheiden. Darum hat es keinen Sinn, die Frage nach den fünf Tagen pauschal mit Islamophobie zu beantworten.

Noch weniger handelt es sich um einen Versuch der Politik, sich Ressentiments zunutze zu machen. Rechtspopulisten wie in Dänemark, den Niederlanden oder Österreich haben in Deutschland keine Chance. Die wenigen Versuche – die Kampagne von Roland Koch in Hessen, antiislamische Parolen im CSU-Kommunalwahlkampf in Bayern – scheiterten. Erfolgreich waren dagegen politische Bündnisse von den Grünen bis zur CDU gegen braune Rattenfänger, die mit der Hetze gegen Moscheen und Kopftuch Stimmen zu gewinnen versuchten. »Pro Köln« zum Beispiel hat es nicht vermocht, die Domstädter in großer Zahl gegen die geplante Großmoschee aufzubringen.

Dabei hätte es in den vergangenen Jahren manchen Anlass gegeben, um das Zusammenleben zwischen Muslimen und deutscher Mehrheitsgesellschaft zu vergiften. Die Bundesrepublik ist vom Ruheraum des internationalen Terrorismus zur Zielscheibe geworden. Mehrfach haben radikale Islamisten – die Kofferbomber von Köln etwa oder die Sauerländer Gruppe – einen Anschlag versucht, der nur dank der Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden beziehungsweise aus Zufall nicht gelang.

Dennoch hat sich das Verhältnis in der vergangenen Zeit eher entspannt als verhärtet. Dafür ist die vom Innenminister initiierte Islamkonferenz zu loben, auch wenn die vielen Treffen nur wenige fassbare Ergebnisse gebracht haben. Wolfgang Schäuble selbst pilgerte bis nach Ankara, Kairo und Damaskus, um die neuen Deutschen und ihre fremde Religion zu verstehen. Der offiziellen Politik seitdem Islamfeindlichkeit vorzuwerfen, muss absurd erscheinen.

Es geht also nicht um Islamfeindlichkeit, eher um Islamferne – vielleicht auch um eine in der Ferne gedeihende Kälte und Abneigung. »Es war keine böse Absicht, sondern eher Gleichgültigkeit und Ignoranz«, meint Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime. Noch fehlt uns Sensibilität für die muslimische Gefühlswelt. Noch immer hat man das Gefühl, dass die deutsche Gesellschaft mit dem Rücken zu ihren Migranten lebt, dass sie ihnen zu wenig gibt und zu wenig von ihnen verlangt. Noch immer sind hier »wir« und da »sie« – die Identifikation und die selbstverständliche Solidarität fehlen, und das ist es, was die Muslime in der trägen öffentlichen Reaktion auf die Mordtat von Dresden gespürt haben mögen. Die Islamkonferenz war eben nur ein Anfang.

Und die Medien? Zufällig hat sich kürzlich eine Journalistenvereinigung für Migranten gegründet. Sie will dem Missstand abhelfen, dass in deutschen Redaktionen fast keine Einwanderer arbeiten. Wäre es anders, so hätte es diese langen fünf Tage gewiss nicht gegeben. Und es sollte sie nie wieder geben.

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