Fall Josef S.: Wenn Akten Grundrechte verhöhnen

Foto:  GEORG  HOCHMUTH  (c) dpa - Bildfunk
Foto: GEORG HOCHMUTH (c) dpa – Bildfunk

Anklage gegen einen Demonstranten sollte Anlass sein, Auswahl und Ausbildung der Richter und Staatsanwälte zu überdenken.

von Oliver Scheiber (Die Presse)

Der Fall des Studenten Josef S., der seit Ende Jänner in Untersuchungshaft sitzt, macht Schlagzeilen. Josef S. hatte Ende Jänner an der Demonstration gegen den Ball rechter Burschenschafter in Wien teilgenommen, in deren Zuge es zu Ausschreitungen mit erheblichen Sachschäden gekommen war. Die Staatsanwaltschaft hat Anklage wegen Landfriedensbruchs erhoben. Bisher fand ein Verhandlungstermin statt.

Das unabhängige Gericht wird den Fall entscheiden. Bereits in diesem frühen Stadium muss es zulässig sein, sich mit der Sprache der Institutionen auseinanderzusetzen. Laut unwidersprochenen Berichten des „Falter“ ist in den Akten im Fall Josef S. nicht wie üblich von Tatverdächtigen die Rede, sondern von „Demonstrationssöldnern“, von „Manifestanten“ und „Chaoten“, die sich „zusammenrotten“, von „Spähern“ und einer „martialischen Phalanx“, von „kohortengleichen Formationen“. Diese Ausdrucksweise weicht von der üblichen, sachlichen Amtssprache ab. Es sind Begriffe der Polemik und Dramatisierung, die zur politischen Agitation eignen.

In Behördenakten haben sie im Rechtsstaat nichts verloren, signalisieren sie doch Gleichgültigkeit, wenn nicht Feindseligkeit gegenüber den Grundrechten der Meinungs-, der Versammlungs- und der Demonstrationsfreiheit. Sie vermitteln (jedenfalls im Kontext der Strafverfahren Tierschützer und Votivkirche/Schlepperei) den Schluss, die Behörden hätten eine Abneigung gegen zivilgesellschaftliches Engagement überhaupt.

Europarat und EU arbeiten seit einigen Jahren an gemeinsamen Standards für die Ausbildung der Richter und Staatsanwälte. Erstaunlicherweise gibt es dabei auf dem gesamten Kontinent eine große Übereinstimmung. War man früher auf die Vermittlung der Gesetzeskenntnisse konzentriert, erkannte man später die Bedeutung der sozialen Kompetenzen und Kommunikationsfähigkeiten der Richter und Staatsanwälte. Und aktuell folgt der nächste Schritt: Europaweit sieht man in der Vermittlung von Werten und Haltungen, in der Arbeit an der Persönlichkeit des Richters und Staatsanwalts die zentrale Herausforderung der Berufsausbildung. Es geht darum, die Sensibilität für die Bedeutung der Grundrechte im täglichen Justizbetrieb zu entwickeln: für eine verständliche Sprache, für eine aktive anwaltliche Vertretung oder umfassendes Dolmetschen etwa. Es geht um die Schärfung des Sinns für die Verhältnismäßigkeit der Mittel, und es geht unter vielem anderem darum, Versammlungs- und Meinungsfreiheit sowie zivilgesellschaftliches Engagement nicht nur zu respektieren, sondern zu garantieren. Wenn Polizei und Justiz diese Selbstverständlichkeit und Klarheit nicht gelingen, dann sehen sie sich zu Recht der Frage ausgesetzt: Wie würde eine Polizei und eine Justiz, die in ruhigen Zeiten von „Demonstrationssöldnern“ und „Zusammenrottungen“ spricht, unter einer autoritären Regierung vom Schlag eines Viktor Orban agieren?

Der Fall Josef S. wäre ein guter Anlass, der Personalauswahl sowie Aus- und Fortbildung der Richter und Staatsanwälte mehr an Aufmerksamkeit und Mittel zukommen zu lassen und neue Initiativen zu setzen – als Dienst an Rechtsstaat und Bevölkerung.

Dr. Oliver Scheiber ist Richter, Lehrbeauftragter an der Universität Wien und Mitglied der Allianz gegen die Gleichgültigkeit, einer Gruppe prominenter Juristen, die Reformvorschläge für Justiz und Strafvollzug unterbreitet hat. Er gibt hier ausschließlich seine persönliche Ansicht wieder.

Den Artikel in der Presse lesen …

siehe auch:

Spiegel onlineDeutscher Student vor Gericht: Österreich gegen Josef S.

von Oliver Trenkamp(Spiegel)

Seit einem halben Jahr sitzt der deutsche Student Josef S. in Wien in U-Haft. Die Staatsanwaltschaft hält ihn für einen Krawalltouristen. Doch der zweite Prozesstag zeigt: Beweise hat sie nicht.

den Artikel lesen …

Teilen mit: