Der Wegfall des Kumulationsprinzips bei Verwaltungsstrafen macht Sozialbetrug lukrativer
Ismael V. arbeitet als Schaler auf einer Wiener Baustelle in der Nähe des Hauptbahnhofs. Obwohl er von Anfang an nur in Wien arbeitet, ist er offiziell bei einer slowakischen Entsenderfirma angemeldet. „Zu fünft mussten wir in einer Unterkunft von nur 20 Quadratmetern leben“, schildert der Bauarbeiter. Nach drei Monaten erhält er keinen Lohn mehr. So wie ihm ergeht es auch 30 anderen Bauarbeitern. „Viele konnten sich nicht einmal mehr etwas zu essen leisten“, erzählt Ismael V. Er selbst bleibt auch noch auf den Behandlungskosten nach einem Arbeitsunfall – er verletzte sich an einem Nagel – sitzen.
Mit Hilfe der Arbeiterkammer (AK) kämpft Ismael V. und seine Kollegen noch immer um den ausständigen Lohn. Bei der Entsenderfirma handelt es sich offensichtlich um eine Scheinfirma, die nach bekanntem Muster agiert: Die Arbeiter werden zwar angemeldet, Steuern und Sozialabgaben aber keine geleistet. Wenige Monate später wird die Firma in Insolvenz geschickt. Dahinter stecken oft größere Firmen, für die Sozialbetrug offenbar zum Geschäftsmodell gehört.
Kostengünstiger Freibrief
Ein Geschäftsmodell, das ab 2020 noch lukrativer werden könnte, fürchten AK und Gewerkschaft. Die Regierung will nämlich das „ Kumulationsprinzip“ bei Verwaltungsstrafen abschaffen. Ein entsprechender Gesetzesentwurf ging soeben in Begutachtung. Soll heißen: Die Anzahl der geschädigten Arbeitnehmer ist dann für das Strafausmaß unerheblich. Die Strafhöhe wird nicht mehr multipliziert. Baufirmen, die systematisch Lohn- und Sozialdumping betreiben, kommen dadurch billiger davon.
„Das ist ein kostengünstiger Freibrief für alle unlauteren Unternehmen und eine Ohrfeige für alle ehrlichen Firmen, die den Rechtsstaat ernst nehmen“, schimpft AK-Direktor Christoph Klein. Eine derartige „All-Inclusive-Strafe“ könnten Unternehmen locker aus der Portokassa bezahlen, das sei weder im Interesse der Wirtschaft noch der durch die Gesetze geschützten Arbeitnehmer“.
Tatsächlich wurde die Kumulation nicht nur zur Abschreckung, sondern auch aus Fairnessgründen eingeführt. Beispiel Arbeitszeitgesetz: Firmen, die gar keine Aufzeichnungen führen, wurden einst geringer bestraft als jene mit kleinen Verstößen. Die Sozialpartner entschieden sich daher, die Strafe auf die Anzahl der betroffenen Mitarbeiter abzustellen.
200 statt 100.000 Euro
Die AK verweist auf den Arbeitsrechts-Fall rund um das Bordservice bei „Henry am Zug“. Weil Pausen zu Unrecht vom Lohn abgezogen wurden, muss das Unternehmen jetzt mehr als 100.000 Euro Strafe zahlen. Ohne „Kumulation“ hätte die Strafe lediglich 200 Euro ausgemacht. „Die Regelung ist ein Kniefall vor den Großkonzernen“, meint Klein.
Die Industriellenvereinigung (IV) sieht das naturgemäß anders und spricht von einer „wichtigen Maßnahme für den Arbeits- und Wirtschaftsstandort Österreich“. Die parallele Verhängung von Strafen könne mitunter ein existenzbedrohendes Ausmaß annehmen, argumentiert IV-Generalsekretär Christoph Neumayer. Erfreut zeigt sich die IV auch über den geplanten Grundsatz „Beratung statt Strafe“. Dies entspreche einem zeitgemäßen Verfahrensrecht.
„Schikane“
Die Wirtschaftskammer (WKO) will zwar ebenfalls Lohn- und Sozialdumping bekämpfen, hält das Kumulationsprinzip dafür aber wenig geeignet. Dieses sei viel mehr „eine Schikane“, so WKO-Sozialexperte Rolf Gleißner: „Zeichnet ein Kleinbetrieb bei drei Mitarbeitern einmal eine Mittagspause nicht auf, drohen neun Strafen – wegen Nichtaufzeichnung, Nichtgewährung und Überschreitung der Höchstarbeitszeit für je drei Mitarbeiter, das ist unverhältnismäßig“.
Der Entwurf lässt noch ein kleines Schlupfloch. Sollten Ministerien die Kumulation in bestimmten Bereichen wie etwa Arbeitszeit- oder Lohndumpinggesetz beibehalten wollen, müssen sie die entsprechenden Strafbestimmungen neu beschließen. Keine Strafmilderung soll es bei illegaler Ausländerbeschäftigung geben.
Verwaltungsdelikte
Das Kumulationsprinzip besagt, dass bei Verwaltungsdelikten jedes Vergehen einzeln bestraft wird. Damit werden zum Beispiel Arbeitszeitverstöße in Konzernen, die mehrere tausend Mitarbeiter betreffen, härter bestraft als in kleinen Firmen mit einigen wenigen Mitarbeitern.
Ab 2020 soll es nur noch eine einzelne Strafe geben. Bis dahin ist eine außerordentliche Strafmilderung vorgesehen. Geplant ist ferner eine Art Unschuldsvermutung. Ab einer Strafhöhe von 50.000 Euro müssen die Gerichte eine Schuld nachweisen. Bisher begründete das Vergehen die Schuld.